© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/21 / 23. April 2021

Rußland fährt weiter auf
Russische Truppen an der ukrainischen Grenze: Moskau wirft der Nato vor, die Realität zu verdrehen
Marc Zoellner

Es waren verstörende Nachrichten, die Andrij Taran vergangene Woche Mittwoch dem EU-Parlament in Brüssel übermittelte: „Die Infrastruktur der Krim“, mahnte der ukrainische Verteidigungsminister, „wird derzeit für eine mögliche Lagerung nuklearer Waffen vorbereitet.“ Handfeste Beweise für seine Beschuldigungen konnte oder wollte Taran zwar nicht veröffentlichen, doch der Verteidigungsminister ist in westlichen Sicherheitskreisen für seine Kenntnis in militärischen Fragen bekannt.

Daß Tarans mahnende Worte in Brüssel auf offenes Gehör stießen, verdankte der Generalleutnant außer Dienst besonders Moskaus neuen militärischen Ambitionen in der Region, von welchen auch das Pentagon in den vergangenen Wochen Kenntnis genommen hatte.

Rußland bestreitet „aggressive Absicht“

„Die Vereinigten Staaten sind zunehmend besorgt über Rußlands Aufrüsten an der ukrainischen Grenze sowie auf der besetzten Krim“, bestätigte Laura Cooper aus dem US-Verteidigungsministerium. „Rußland hat nun mehr Truppen an der Grenze zur Ukraine stationiert als zu sämtlichen anderen Zeiten seit 2014.“

Tatsächlich bezeugen in sozialen Medien kursierende Amateuraufnahmen aus der Krim-Hafenstadt Sewastopol schier endlos lange Militärkonvois. Am Freitag vergangener Woche passierten gleich fünfzehn russische Kriegsschiffe die Straße von Kertsch auf ihrem Weg ins Schwarze Meer. Laut ukrainischen Medien sollen sich derzeit rund 40.000 russische Soldaten an der Grenze zu ihrem Nachbarland befinden. Der Kreml dementierte das bislang nicht. Bezüglich seiner Truppenbewegungen versucht das russische Verteidigungsministerium hingegen seit Wochen besorgte Gemüter zu beschwichtigen.

Die Nato solle „die Realität nicht verdrehen und das von Rußland auf seinem eigenen Gebiet durchgeführte Gefechtstraining nicht als Erscheinungsform einer aggressiven Absicht interpretieren“, erklärte Kremlsprecherin Marija Sacharowa am Donnerstag vergangener Woche. Das Ausmaß dieser Übung „überschreitet nicht jene der vergangenen Jahre und scheint bescheidener als die militärischen Übungen der Ukraine und der Nato, die derzeit an der ukrainischen Grenze sowie auf ukrainischem Gebiet abgehalten werden“. Seit März läuft eines der größten Nato-Militärmanöver auf europäischem Boden seit dem Ende des Kalten Krieges. „Mehr als 28.000 multinationale Einsatzkräfte aus 26 Staaten werden zeitgleich Operationen in einem Dutzend Länder durchführen“, kündigte der für die Leitung des Unternehmens zuständige Großverband „United States Army Europe and Africa“ das gesteckte Ziel der „Defender Europe 21“ getauften Übung an.

Mit seiner Blockade der Straße von Kertsch für ukrainische Handelsschiffe scheint Moskau das jüngste Aufflammen dieser Krise geradezu provozieren zu wollen. Bedeutende Hafenstädte am Asowschen Meer wie die ukrainische Stahlmetropole Mariupol sind seitdem vom Welthandel förmlich abgeschnitten. Mit bislang zwei Milliarden Dollar haben die USA die Ukraine seit Beginn des Konflikts unterstützt. Mit Hilfe dieser Finanzspritze arbeitete die Ukraine mit der Türkei bei der Produktion von bis zu 48 Kampfdrohnen zusammen. Diese, bemerkte der britische Verteidigungsminister Ben Wallace, hätten in der modernen Kriegsführung auf beiden Schlachtfeldern „die Karten neu geschmischt“.

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