© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/21 / 23. April 2021

Wenn Multikulti Minderheiten verdrängt
Zuwanderung kann die Lebensrealität der gesamten Bevölkerung verändern: Die Dominanz einer Mehrheitskultur ist nicht länger selbstverständlich
Josef Hämmerling

Der Schutz von Minderheiten ist eine der elementarsten Aufgaben und Pflichten eines Staates. Dazu gehört auch, daß Minderheiten Rechte zugesprochen werden, die über ihren Anteil an der heimischen Bevölkerung hinausgehen. So wie etwa der Wegfall der Fünf-Prozent-Klausel für die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein. Doch sind die Rechte der Mehrheit dann weiterhin gewährleistet? 

Dieser Frage sind jetzt Ruud Koop­mans und Liav Orgad vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) mit überraschenden Ergebnissen nachgegangen. So hätten zum Beispiel globale Migration und zunehmende Vielfalt in westlichen Ländern nach Ansicht der beiden WZB-Forscher die Dynamik der Gruppen innerhalb der Gesellschaft verändert. Der Ausbau von Minderheitenrechten, die Erosion nationaler Souveränität und der demographische Wandel hätten dazu geführt, daß die Dominanz der Mehrheitskultur nicht länger selbstverständlich sei. 

Deshalb bedürfe es einer Neubetrachtung der Kräfteverhältnisse, die nicht nur auf die Abwehr einer vermeintlich drohenden „Tyrannei der Mehrheit“ abziele. Der „gruppenübergreifende Differenzierungsansatz“ der Sozialwissenschaftler beleuchtet neben der traditionellen Unterscheidung nationaler und zugewanderter Minderheiten auch einheimische und zugewanderte Mehrheiten.

Multikulturalismus hat    sich verselbständigt

Koopmans und Orgad kommen in der Zusammenfassung ihrer Untersuchung zu folgender Schlußfolgerung: „Der Multikulturalismus hat sich verselbständigt und ist zu weit in eine Richtung durchgeschossen. Die sich rasch verändernde Realität erfordert eine neue Mehrheits-Minderheiten-Theorie, wonach die moralischen Rechtfertigungen für kulturelle Minderheitenrechte auch für Mehrheitsgruppen gelten sollten.“

Das betreffe besonders „zwei Bereiche, in denen Mehrheiten kulturell verwundbar werden können und rechtlichen Schutz benötigen: die Regulierung von Zuwanderung und die Repräsentation nationaler Identität in öffentlichen Institutionen“. Ein Beispiel der beiden Forscher betrifft die Legitimität der religiösen Identitäten der Mehrheit im öffentlichen Raum. 

Die UN-Erklärung über Minderheitenrechte verlangt, „die Existenz und die nationale oder ethnische, kulturelle, religiöse und sprachliche Identität von Minderheiten zu schützen“. Das beinhaltet auch die staatliche Aufgabe, Maßnahmen zu ergreifen, „um günstige Bedingungen zu schaffen, die es den Angehörigen von Minderheiten ermöglichen, ihre Eigenschaften auszudrücken und ihre Kultur, Sprache, Religion, Traditionen und Bräuche zu entwickeln“.

Das Europäische Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten aus dem Jahr 1998 ist sogar noch deutlicher: Es verlangt von den Staaten, „Bedingungen zu fördern“, die es Angehörigen nationaler Minderheiten ermöglichen, ihre Kultur zu erhalten, zu entwickeln und zu pflegen sowie die „wesentlichen Elemente ihrer Identität zu bewahren“ wie Religion, Sprache, Traditionen und kulturelles Erbe. Auch die Gründung religiöser Institutionen, Organisationen und Vereinigungen gehört gemäß dem Abkommen zu den staatlichen Pflichten. Angehörige der Mehrheitsbevölkerung haben jedoch nur als Individuen, nicht aber als Gruppen das Recht, ihre Religion und Identität als Teil der Menschenrechte zu praktizieren und auszudrücken. „Tatsächlich wird von der Mehrheit erwartet, oft sogar verlangt, daß sie im öffentlichen Raum religiös neutral bleibt.“

Ein weiteres Beispiel ist die Einwanderung. Viele Migranten entscheiden sich bewußt für ein Land und erwarten, daß ihre eigene Kultur auch im neuen Heimatland respektiert wird. Auf der anderen Seite sind sie aber nicht bereit, sich den kulturellen Eigenheiten in diesem Land anzupassen.

Die beiden Autoren zitieren den kanadischen Politikwissenschaftler Joseph Carens, der sich zwar für offene Grenzen einsetzt, aber in seiner 1992 veröffentlichten Arbeit „Migration und Moral: Eine liberale, egalitäre Perspektive“ eine Rücksichtnahme auf die indigene Bevölkerung fordert. „Es liegt die Vermutung nahe, daß viele Japaner ihre besondere Lebensweise schätzen, daß sie sie bewahren und an ihre Kinder weitergeben wollen, weil sie finden, daß sie ihrem Leben Sinn und Tiefe verleiht.“ 

Die Annahme, daß diese besondere Kultur und Lebensweise tiefgreifend verändert würde, wenn eine signifikante Anzahl von Einwanderern nach Japan käme, erscheine vernünftig. Die Beschränkung der Zahl von Migranten sei somit notwendig, um die Kultur des Landes zu bewahren. Dies sind nur drei Beispiele, wie Mehrheitsrechte ausgehöhlt werden und Minderheiten die Gegebenheiten in den Ländern, in denen sie leben oder in die sie eingewandert sind, immer mehr zu ihren Gunsten verändern. Das führt dazu, daß sich das Leben für alle ändert, obwohl vielleicht nur kleine Teile der Bevölkerung dieser Minderheitengruppe angehören. Laut Koopmans und Orgad reiche schon die Überzeugung von einem angeblichen Ungleichgewicht aus, um neue gesellschaftliche und politische Realitäten zu schaffen.

Ein Beispiel hierfür sei das laizistische Frankreich, wo Staat und Kirche strikt voneinander getrennt werden. Viele Einwanderer – auch diejenigen aus früheren französischen Kolonien – verbinden das gesellschaftliche Leben aber mit ihrem Glauben. Schon diese Aufgabe des bisherigen Selbstverständnisses als laizistischer Staat, um damit Minderheitsansprüche aus seiner multikulturellen Gesellschaft anzuerkennen, berühre aber „unmittelbar die Interessen einer Mehrheit“.

Minderheiten-Lobby drängt auf weitere Rechte

Ungeachtet dieser Erkenntnisse verstärken die Lobby-Organisationen für Minderheitenrechte ihre Bemühungen sogar noch. Auslöser hierfür war die endgültige Ablehnung des „Minority SafePacks“ durch die EU-Kommission im Januar dieses Jahres.

Rund 1,2 Millionen Menschen aus allen EU-Staaten hatten die von der Minority SafePack-Initiative (MSPI) aufgestellten Punkte unterstützt, so daß die EU-Kommission sich offiziell hiermit befassen mußte. Darin enthalten war ein Paket von Gesetzesvorschlägen, die den Schutz nationaler Minderheiten gewährleisten sollen wie etwa die Förderung von Sprachrechten und der Schutz der Kultur der nationalen Minderheiten. Das Ziel sei, die Sicherheit von nationalen Minderheiten europaweit zu gewährleisten und gesetzliche Regelungen für Minderheiten zu stärken. Unterstützt wurde dies von vielen Parlamentariern aus allen Ländern der EU, unter anderem auch vom Bundestag. Die Initiative wurde 2013 von der Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten (FUEN) auf den Weg gebracht und wird von einem Bürgerkomitee getragen.

Die Forderungen der MSPI basieren auf den im EU-Beitrittsprozeß geregelten „Kopenhagener Kriterien“. Diese sehen unter anderem die Achtung der Minderheiten und einen entsprechenden Minderheitenschutz vor. Aufgrund dieser Kriterien haben viele der neuen Mitgliedstaaten fortschrittliche Modelle des Minderheitenschutzes rechtlich festgelegt. Die Entwicklungen und Bemühungen in den einzelnen Ländern sind jedoch sehr unterschiedlich.

Diese Lücke beabsichtigte die MSPI, mit der Verankerung von Minderheitenrechten im Unionsrecht zu schließen. Die EU-Kommission lehnte das jedoch ab. „Obwohl die Rechte von Personen, die Minderheiten angehören, zu den Werten gehören, auf die sich die Union gründet, hat die EU keine allgemeine Gesetzeskompetenz speziell für den Schutz nationaler Minderheiten“, heißt es von seiten der Brüsseler Behörde. 

Die EU-Kommission hat aber Folgemaßnahmen in Aussicht gestellt. So solle etwa der „Strategische Rahmen der EU zur Gleichstellung, Inklusion und Teilhabe der Roma 2020–2030 und der Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Gleichstellung, Inklusion und Teilhabe der Roma dazu beitragen, das Bewußtsein für die Kunst, die Geschichte und die Kultur der Roma sowie soziale Innovationen und die Erprobung politischer Konzepte zugunsten der Roma zu fördern“. Dennoch wird der Widerstand nach der Ablehnung der MSPI immer größer. FUEN-Ehrenpräsident Hans Heinrich Hansen zeigte sich im Januar gegenüber der Zeitung Der Nordschleswiger enttäuscht von der EU-Kommission: „Diese Entwicklung setzt ein Fragezeichen hinter das Instrument der europäischen Bürgerinitiative und unterstreicht, daß die Kommission weit entfernt von den Bürgern agiert.“ 

EU-Parlamentarier setzen sich für Minderheiten ein

Hansen betonte weiter, die Realität notleidender Minderheiten bestehe ja gerade darin, daß diese trotz der auf dem Papier stehenden EU-weiten Grundrechte weiter in Bedrängnis steckten. Rasmus Andresen, Mitglied der fraktionsübergreifenden parlamentarischen Gruppe für nationale, sprachliche und autochthone Minderheiten sowie Verhandler der Minority SafePack Resolution für die Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz im EU-Parlament, kündigte weitere Aktionen an.

„Im Europaparlament haben wir eine breite fraktionsübergreifende Mehrheit aus ambitionierten Abgeordneten, die sich entschieden für Minderheitenrechte einsetzen. Gemeinsam werden wir auch ohne neue Initiativen von der EU-Kommission dafür kämpfen, daß die Forderungen aus der MSPI umgesetzt werden. Sei es im Rahmen der Ausgestaltung des Exzellenzzentrums zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte in der EU oder bei der Überarbeitung der Copyright-Richtlinie.“

WZB-Studie: „Majority-Minority Constellations: Towards A Group-Differentiated Approach“

 bibliothek.wzb.eu





Föderalistische Union Europäischer Nationalitäten

Die Föderalistische Union Europäischer Nationalitäten (FUEN) ist mit mehr als hundert Mitglieds­organisationen in 35 europäischen Ländern der größte Dachverband der autochthonen, nationalen Minderheiten und Volksgruppen in Euro­pa. Nach im „Handbuch der europäischen Volksgruppen“ veröffentlichten Schätzungen gibt es in Europa rund 340 solcher Minderheiten mit mehr als 100 Millionen Menschen. Allein in der EU gibt es neben den 23 Amtssprachen über 60 Regional- oder Minderheitensprachen, die von rund 40 Millionen Menschen gesprochen werden. Ziel der FUEN ist es, Minderheiten innerhalb großer Organisationen wie der EU oder den Vereinten Nationen eine Stimme zu geben, indem sie sich für die Erhaltung und Förderung der Identität, Sprache, Kultur, Rechte und Traditionen der entsprechenden Gruppen einsetzt. FUEN-Mitgliedsorganisationen sind unter anderem die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen oder der Bund Deutscher Nordschleswiger. (jh)

 www.fuen.org