© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/21 / 23. April 2021

Fremdschämen und frösteln
Identitätspolitik: Wie die Kulturrevolution im Namen des Antirassismus ihre eigenen Kinder frißt
Thorsten Hinz

Ein alter Witz, neu verpackt: Ein Migrationshintergründler bewirbt sich als Nachrichtensprecher bei der BBC. Nach dem Vorstellungsgespräch erkundigt sich ein Freund: „Nun, hast du die Stelle bekommen?“ Traurig schüttelt der Befragte den Kopf. Als der Freund die Gründe der Ablehnung wissen will, erhält er zur Antwort: „A-a-a-lles  Ra-ra-ra-ssisten!“ 

Die Pointe legt den Kern der Identitätspolitik frei, die derzeit durch die westliche Welt und Deutschland rast: Sie ist erstens ein Akt der Selbstentlastung und zweitens der Versuch, sich auf unlautere Weise Vorteile zu verschaffen. Persönliche Mißerfolge, stockende Karrieren, enttäuschte Erwartungen führen bei den Betroffenen statt zu einer Selbstprüfung grundsätzlich zu der Unterstellung, eine weiße, rassistische und heteronormative Mehrheitsgesellschaft würde diversitäre Minderheiten strukturell diskriminieren. Was die Diskriminierten zum Anspruch auf Kompensation berechtigt.

Dieses Reaktionsmuster ist gerade im Düsseldorfer Schauspielhaus zu beobachten. Dort inszenierte vor zwei Jahren der Regisseur Armin Petras (57) – ein Prominenter seines Berufsstandes – Georg Büchners „Dantons Tod“, ein Drama, das modellhaft aufzeigt, wie die Revolution – hier die Große Französische – ihre Kinder frißt. In der Inszenierung sind Texte anderer Autoren und aktuelle Diskurse eingestreut. So tritt auch ein haitianischer Revolutionär auf, der gegen Sklaverei und für die Befreiung der Schwarzen kämpft. Anregungen dazu finden sich in dem 1980 in Berlin uraufgeführten Drama „Der Auftrag“ von Heiner Müller, in dem Abgesandte des Revolutionskonvents in die Karibik reisen, um dort die Sklaverei abzuschaffen. Müller wiederum hatte Motive aus den „Karibischen Geschichten“ von Anna Seghers übernommen.

Petras’ Inszenierung war nur mäßig erfolgreich. Um so größer ist der nachträgliche Furor, den der – dunkelhäutige – Nebendarsteller Ron Iyamu jetzt mit dem Vorwurf ausgelöst hat, Petras hätte ihn während der Proben mit seiner Rollenbezeichnung, die „Sklave“ lautete, angesprochen, was Mitwirkende zu rassistischen Witzen animiert hätte. Dem Intendanten Wilfried Schulz warf er vor, im Schauspielhaus Regisseure arbeiten zu lassen, von denen „rassistische und sexistische Sprüche“ bekannt seien. Der Regisseur und die Leitung des Theaters stehen seither schwer unter Druck. Die Stadt Düsseldorf hat angekündigt, noch in diesem Jahr eine Stabsstelle „Antidiskriminierung“ zu installieren.

Das ist 22 schwarzen Theaterkünstlern nicht genug. Sie haben einen offenen Brief unterzeichnet, in dem sie es ablehnen, eine geplante Inszenierung an einem Theater zu realisieren, an dem sie durch „institutionellen Rassismus retraumatisiert“ würden. Stattdessen solle man ihnen die gesamten Gagen der nicht stattfindenden Produktion ausbezahlen und zusätzlich mindestens vier Jahre lang jährlich 600.000 bis 800.000 Euro überweisen, um ein eigenes Theater zu gründen.

Das hat den Dramaturgen Bernd Stegemann, einen in der Wolle gefärbten Linken, der 2018 mit Sahra Wagenknecht erfolglos die Sammlungsbewegung „Aufstehen“ gegründet hatte und zuletzt als scharfer Kritiker der Identitätspolitik hervorgetreten war, zu einem Artikel in der FAZ veranlaßt. Die Ansprache mit dem Rollentitel, die Iyamu anprangert, sei bei Theaterproben üblich und nicht zu beanstanden. Schließlich träfen hier „Künstler aufeinander, deren Talent darin besteht, sich auf fiktionale Welten einlassen zu können. Je angstfreier sich ein Schauspieler seiner Figur und ihren Ausnahmezuständen nähert, desto komplexer wird sein Spiel.“

Iyamu leidet also nicht am Rassismus, sondern an fehlender Professionalität. Im Bewerbungsvideo, das die Salzburger Schauspielschule von Iyamu gedreht hat, sieht man, so Stegemann „einen unsicheren jungen Mann, der im schauspielerischen Ausdruck blockiert ist. Wollte man es handwerklich beschreiben, so steht er beim Spielen neben sich und schaut auf sein eigenes Tun.“ Die Mühen, diesen Anfängerfehler zu überwinden, habe der Mime „offenbar abgebrochen und sich stattdessen immer öfter in den Selbstschutz der empörten Kränkung begeben“.

Stegemann wurde seine Intervention, die am 9. April erschien, im Netz und im Theaterbetrieb schwer verübelt. Seinen vielfrequentierten Twitter-Account hat er aufgegeben. Das Berliner Ensemble, an dem er als Gastdramaturg tätig ist, hat sich flugs von ihm distanziert, will aber – wie es tapfer mitteilt – an der Zusammenarbeit mit ihm festhalten. Binnen drei Tagen sind sage und schreibe 1.400 Unterzeichner zusammengekommen, die einen Protestbrief gegen Stegemann unterstützen. Das hatte noch nicht einmal die DDR-Kulturbürokratie während der Biermann-Affäre 1976 geschafft. 

In dem Schreiben ist viel von Respekt, Dialog, Offenheit. Konfliktfähigkeit, von einer „Auseinandersetzung auf Augenhöhe“ die Rede. Doch dazu sind die Verfasser nicht in der Lage. Sie bringen kein einziges Argument vor, das Stegemann widerlegt, nur moralisierende Wadenbeißerei. Im Ergebnis unterstützen sie die Forderung der 22 Schauspieler nach einer gesonderten Spielstätte für „Schwarze Künstler:innen und Person of Color“, die sich „aus der Umklammerung einer aus ihrer Sicht toxischen Institution (...) kollektiv befreien“ wollen. 

Man kann es auch so sehen: Sie fühlen sich den Anforderungen, die das Theater an sie stellt, nicht gewachsen und verlangen einen Schonraum. Und natürlich geht es um Geld, um Planstellen, um feste Engagements. Dafür aufkommen müßte der „alte weiße Mann“, um hinterher das Rassismus-Lamento über sich ergehen zu lassen. Auch dafür haben die Unterzeichner eine passende Begründung: „Wir sind die Erben einer Geschichte, und dieser Geschichte müssen sich die weißen Menschen unter uns stellen.“ Nun, dieses Erbe ist plural und reichhaltig. Der Imperativ, die Quantität über die Qualität obsiegen zu lassen, läßt sich daraus nicht ableiten.

Es kommt noch schlimmer. Armin Petras hat Ron Iyamu in einer Mail „in aller Umfänglichkeit“ um Entschuldigung gebeten, weil er seinen „Leidensdruck als Schwarzer Deutscher in dieser Gesellschaft nicht verringert, sondern vergrößert hat“. Die Arbeit am Büchner-Drama sei doch darauf angelegt gewesen, „deinem ureigenen Anliegen, dem Rassismus in historischer und heutiger Gestalt entgegenzutreten“, eine künstlerische Form zu verleihen. „Zur Generalprobe war ich stolz auf unseren Weg. Von diesem Stolz ist nun in der Tat nicht mehr viel übrig.“

Petras ist zu der Auffassung gelangt, daß es „heute nicht mehr (reicht), nur kein Rassist zu sein, es geht darum, sich antirassistisch zu verhalten und das so auch permanent zu kommunizieren. Mit Worten, Gesten, Bildern, eigenem Verhalten und zwar egal wo, genauso in der Umkleide wie am Kaffeeautomaten oder auf der Probe. In diesem Lernprozeß befinde ich mich zur Zeit.“

Unschwer sind hier Geist und Buchstabe der stalinistischen Selbstkritik zu erkennen. Ist sie ironisch gemeint? Oder handelt es sich um die Zuckungen eines gebrochenen Menschen? Jedenfalls überfällt den Leser neben dem Fremdschämen ein Frösteln.

Hier spielt sich auch eine Künstlertragödie unserer Zeit ab: Da ist man immer links, immer auf der Seite des Fortschritts marschiert, um jetzt von der Kulturrevolution, die man angestoßen hat, gefressen zu werden.

In Heiner Müllers „Auftrag“ sagt der Schwarze zum Weißen: „Das Theater der weißen Revolution ist zu Ende. Wir verurteilen dich zum Tode (…). Weil deine Haut weiß ist. Weil deine Gedanken weiß sind unter der weißen Haut ... Noch dein Harn und deine Scheiße sind Ausbeutung und Sklaverei. Von deinem Samen nicht zu reden … Jetzt gehört dir nichts mehr. Jetzt bist du nichts. Jetzt kannst du sterben. Grabt ihn ein.“ Muß der Weiße das Urteil klaglos annehmen? Wo ist das Theater, das die Frage behandelt – und das Antwort gibt?