© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/21 / 23. April 2021

Den Epochenwechel mit Tiefblick erfaßt
Gedenken: Zum 225. Geburtstag des bürgerlichen Realisten und Schriftstellers Karl Leberecht Immermann
Oliver Busch

Einem zu seiner Zeit noch nicht ganz vergessenen Kollegen, dem Vormärz-Schriftsteller Karl Immermann, wollte Thomas Mann nur unter dem zarten Vorbehalt Respekt erweisen, er sei „nicht recht ins Europäische durchgedrungen“. Dieser Tadel des „Zauberers“, der sich nach dem Abschied von den Positionen seiner deutschnationalen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1919) als „guter Europäer“ neu zu erfinden versuchte, wiegt allerdings leicht angesichts einer imponierenden Kette von Immermann-Verehrern, die von Heinrich Heine, Joseph von Eichendorff, Friedrich Hebbel und Friedrich Engels bis zu Jacob Burckhardt, Wilhelm Dilthey, Hugo von Hofmannsthal und Hermann Hesse reicht.

Doppelexistenz als Richter und Dichter

Karl Lebrecht Immermann wurde am 24. April 1796 in Magdeburg geboren, wo er ein Klostergymnasium besuchte. 1813 und 1815 nahm er als freiwilliger Jäger am Befreiungskampf gegen Napoleon teil. Als Sekondeleutnant entlassen, setzte Immermann sein Jurastudium fort, bestand mit „vorzüglich“ seine Examina, kehrte 1825 als Kriminalrichter in seine Heimatstadt zurück, um 1827 als Landgerichtsrat nach Düsseldorf zu wechseln.

Das Korsett dieses bürgerlichen Berufs hat er bis zu seinem frühen Tod im August 1840 nie abgelegt, so wie er die Halt gebenden christlich-monarchistischen Überzeugungen nie preisgab. Doch schon als Student bereitete er sich auf ein Doppelleben als „Richter und Dichter“ vor. Dabei hielt sich der hochproduktive Autor lange Zeit fälschlich für ein dramatisches und lyrisches Talent, und erst die französische Julirevolution von 1830 ließ ihn diesen Irrtum einsehen: „Nie hat ein Ereignis so gewaltig und erschütternd auf mich gewirkt wie dieses.“ Es vermittelte ihm die Erkenntnis, mit der von ihm bis dahin gepflegten spätromantischen „Traumpoesie“ die komplexe Wirklichkeit der zwischen Restauration und Revolution, Altem und Neuem schwankenden Übergangsepoche nicht mehr darstellen zu können. 

Nach der Kehrtwende von der Poesie zur Prosa reift Immermann jedoch schnell zum „großen Epiker“, dessen voluminöse Romane „Die Epigonen“ (1836) und „Münchhausen“ (1839) die Literaturgeschichte als erste auf das gesellschaftliche Ganze zugreifende Zeitgemälde verzeichnet, als gelungene deutsche „Epochenromane“. Kein anderer Autor vor 1848, weder Heine noch Büchner, weder Grabbe noch Gutzkow, habe die anbrechende Moderne mit solcher seismographischen Sensibilität und solchem Tiefblick erfaßt wie dieser „gebildetste deutsche Dichter seiner Zeit“ (Dilthey, 1861). Dieses außergewöhnliche politisch-kulturkritische Tiefenbewußtsein speist sich nach dem Urteil germanistischer Immermann-Interpreten wie Benno von Wiese und Friedrich Sengle aus dem melancholischen Naturell, aber mehr noch aus christlich-konservativen Dispositionen. Als Christ sei Immermann von der ewigen Unvollkommenheit der Welt überzeugt gewesen, als Konservativer begegnete er dem unter vormärzlichen Intellektuellen grassienden ersatzreligiösen Fortschrittsglauben mit Skepsis. Gerade der durch seine berufliche Verankerung geschaffene Abstand von allen Bindungen und Gruppenideologien habe es ihm erlaubt, ein vollkommen unbefangenes, schonungslos-wahres, zwangsläufig auch satirisch-karikierendes Bild der vom „verwesenden“ Adel und vom „verspießerten“ Bürgertum geprägten Biedermeier-Kultur zu zeichnen.

Dieser schlug bereits die Totenglocke. Die neue Wirklichkeit, wie sie Immermanns Romane schildern, war die der sich formierenden Industrie- und Massengesellschaft, deren Gärungsprozeß im sich entfaltenden Ruhrgebiet er von seinem Düsseldorfer Logenplatz aus verfolgte. In einem eindrucksvollen Kapitel der „Epigonen“ deutet er auch bereits, lange bevor um 1900 die Umwelt- und Naturschutz-Bewegung aufkam, die hohen ökologischen Kosten an, die die kapitalistische „Weltkraft Geld“ mit ihrem lawinenartigen Einbruch in die alteuropäischen Agrarlandschaften verursachen würde. Die einst „anmutige Hügel- und Waldnatur“ schien Hermann, dem Helden des Romans, durch die Unternehmungen seines Onkels „entstellt und zerfetzt“. Über der Gegend lagerte ein von vielen Fabrikschloten „mit widerlichen Gerüchen geschwängerter Dunst“, der die Gesundheit der sich als „Sklaven eines künstlich gesuchten Vorteils“ verdingenden ehemaligen Landarbeiter ruiniere. 

Trotzdem glitt der bürgerliche Realist Immermann nicht in Agrarromantik ab. Nur unter der Last der für ihn ideologisch nicht auflösbaren Epochen-Widersprüche wählte er für den Schluß der „Epigonen“ einen unglaubwürdigen Salto mortale: Hermann, der Erbe dieses Industrie-Imperiums, läßt die Fabriken eingehen und gibt die Ländereien dem Ackerbau zurück, um mit den Seinen auf dieser grünen Insel den als sicher prognostizierten Untergang des Maschinenzeitalters zu überstehen.