© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/21 / 23. April 2021

Harte Indizien, keine Beweise
Pädophilie: Der Autor Guy Sorman wirft Michel Foucault Kindesmißbrauch vor
Björn Harms

Als der Essayist Guy Sorman am 9. März im französischen Fernsehen eine Bombe platzen ließ, blieb die Detonation zunächst überraschend geräuschlos. Während eines Interviews mit dem Sender „France 5“ warf der 77jährige seinem alten Bekannten, dem weltberühmten Philosophen Michel Foucault, nichts Geringeres als Kindesmißbrauch und Pädophilie vor: „Was Foucault mit den Kindern in Tunesien gemacht hat – und ich habe es gesehen und mache mir Vorwürfe, daß ich es damals nicht angeprangert habe (...). Diese Dinge waren völlig verwerflich – mit kleinen Kindern! – ganz zu schweigen von dem Problem der Zustimmung. Sie [die Kinder] waren nicht weiß, nicht einmal französisch. Das ist moralisch extrem häßliches Zeug (…). Ich weiß, wer Foucault war.“

Kurz zuvor hatte Sorman seinen neuesten Essayband „Mon dictionnaire du Bullshit“ veröffentlicht. Darin schreibt der Autor über den 1984 verstorbenen Foucault: „Ich gebe zu, daß ich gesehen habe, wie er sich in Tunesien kleine Jungen gekauft hat (…). Er arrangierte Treffen im Mondschein mit ihnen auf dem Friedhof von Sidi Bou Saïd und schändete sie ausgestreckt auf Gräbern.“

Die französischen Medien blieben zunächst stumm. Niemand traute sich, so schien es, den Nationalheiligen Foucault anzugreifen. Woher kamen plötzlich diese Anschuldigungen von Sorman? Wollte er nur Publicity für sein Buch? Weshalb erwacht nach knapp 50 Jahren sein Gewissen? Hatte all die Jahre tatsächlich niemand etwas gemerkt oder, schlimmer noch, die ganze Angelegenheit verschwiegen? 

Zeugenaussage über die Vorfälle bleibt vage

Stattdessen griff die englische Sunday Times die Geschichte auf. Dort bekräftigte der französisch-amerikanische Autor noch einmal seine Vorwürfe: Er sei mit einer Gruppe von Freunden zu Ostern 1969 in das nahe Tunis gelegene Künstlerdorf gereist, wo Foucault zu jener Zeit gelebt habe. Jungen im Alter von acht, neun Jahren seien dem Philosophen hinterhergelaufen und hätten gerufen: „Nimm mich, nimm mich!“

Der zu dieser Zeit 42jährige Philosoph hätte ihnen etwas Geld zugeworfen und gesagt: „Wir treffen uns um 22 Uhr am üblichen Ort.“ Die Journalistin Chantal Charpentier, damalige Lebensgefährtin von Sorman und Reisebegleiterin, bestätigte in der französischen Presse die Erlebnisse und fügte hinzu: Foucault habe sich wie ein „scheußlicher Kolonialist“ verhalten, beweisen könne sie den Mißbrauch aber nicht.

Wenige Tage nach dem Bericht der Sunday Times begaben sich Reporter der Zeitschrift Jeune Afrique in Sidi Bou Saïd auf Spurensuche. Als Zeitzeuge wurde ein gewisser Moncef Ben Abbes ausgemacht, der „wahre Hüter des Gedächtnisses des Dorfes“, wie es im Text heißt.  „Foucault war nicht pädophil, sondern wurde von jungen ‘Epheben’ verführt“, berichtet Ben Abbes. Es handelte sich dabei um „Jungs im Alter von 17 oder 18 Jahren, die er kurz in den Hainen unter dem Leuchtturm neben dem Friedhof traf“. Die meisten kürzlich erschienenen Artikel (auch im deutschsprachigen Raum), die Sormans Pädophilievorwürfe ins Reich der Fabeln verweisen, stützen sich auf diesen Bericht. Doch wer Moncef Ben Abbes ist, bleibt dem Leser verschlossen. Welches Alter hat die Person? In welchem Verhältnis stand er zu Foucault? Wie glaubwürdig sind seine Aussagen?

Nähere Bekannte widersprechen den Gerüchten: „Ich glaube nicht einen Moment lang, daß Foucault pädophil war“, meint etwa der französische Romancier Pascal Bruckner in der NZZ. Stattdessen habe er, was allgemein bekannt war, „eine Vorliebe für junge Männer“ gehabt. Für Bruckner stehe jedoch außer Zweifel: „Foucault leistete intellektuelle Schützenhilfe für pädophile Verhaltensweisen.“

Und in der Tat, Foucaults Äußerungen zum Thema Pädophilie sind mehr als problematisch. So argumentierte er etwa gegen die gesetzliche Regelung eines Einverständnisalters. Es sei schwierig, Schranken festzulegen, zumal es sein könne, daß das Kind mit seiner eigenen Sexualität den Erwachsenen begehre, erklärte Foucault in einem Radiointerview 1978. In einem anderen öffentlichen Gespräch aus dieser Zeit schlug der postmoderne Denker vor, daß es sinnvoll sein könnte, die strafrechtlichen Sanktionen in bezug auf sexuelles Verhalten ganz abzuschaffen – sogar die, die Vergewaltigung bestrafen.

Zu jener Zeit waren derartige Ansichten in linken Denkerkreisen keinesfalls verpönt. Bereits 1977 hatten 69 Pariser Intellektuelle in der Tageszeitung Le Monde eine Petition veröffentlicht, die darauf abzielte, daß die „Zustimmung“ eines Kindes zum Sex mit einem Erwachsenen diesen strafrechtlich entlaste. Zu den Unterzeichnern gehörten bekannte Autoren wie Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Roland Barthes oder Jacques Derrida, aber auch der sozialistische Kulturminister Jack Lang, dem die Teilnahme an Sexorgien mit Minderjährigen in Marokko vorgeworfen wurde.

Urheber der Petition war der heute 83jährige Schriftsteller Gabriel Matzneff, der in seinen Büchern detailreich vom Sex mit Kindern in Paris und auf den Philippinen berichtete. Aber niemand in Frankreich störte sich an diesen Romanen, im Gegenteil, Matzneff wurde mit Preisen überhäuft. Erst in den letzten zwei Jahren setzte eine intensive Debatte ein, ausgelöst vor allem durch das Buch „Die Einwilligung“ von Vanessa Springora, die in den 1980er Jahren mit gerade einmal 14 Jahren ein Verhältnis mit dem über 50jährigen Matzneff begonnen hatte – freiwillig und mit dem Wissen der Mutter, die für den Schriftsteller arbeitete.“

Verherrlichung von Pädophilie nicht nur links

Diese Aufarbeitung des früheren linken Intellektuellenmilieus sorgt für gehörige Irritationen: Denn eigentlich sind die Moralkategorien in der heutigen Zeit klar abgesteckt – rechts das verwerfliche, abgrundtief Böse, links die Utopie des Guten. Die wieder aufflammenden Pädophiliedebatten bringen diese Vorstellung gehörig ins Wanken. Ein Großteil der Angeklagten sind und waren nun einmal linke Intellektuelle.

Dieser These widersprach jedoch zuletzt der Soziologe Pierre Verdrager, der mit „Le grand Renversement“ („Der große Umschwung“) im Februar ein neues Buch auf den Markt gebracht hat, in dem er die französischen Pädophiliedebatten seit den 1970er Jahren aufarbeitet. Ob die Vorwürfe gegen Foucault zutreffen, wisse er nicht, erklärte Verdrager in der Welt. Um gleichzeitig in eine andere Richtung zu schießen: Die von Autoren und Intellektuellen propagierte Pädophilie dürfe man auf keinen Fall politisch links verorten. „Das Phänomen sei „transversal“, und mit Renaud Camus und Alain de Benoist gebe es in Frankreich genügend Beispiele der Verherrlichung der Pädophilie von rechts. 

Schwere Vorwürfe – in der Welt wird jedoch mit keiner Zeile erwähnt, wann Camus und de Benoist derartiges getan haben sollen. „Ich hatte vor dem Interview mit Verdrager sein Buch gelesen, und deshalb gab es für mich keinen Anlaß, an seiner Einschätzung zu zweifeln“, teilt die Welt-Journalistin Martina Meister auf Nachfrage der JUNGEN FREIHEIT mit. „Da es nicht um den Vorwurf der Pädophilie, sondern eindeutig um deren Verteidigung ging, war es auch nicht nötig, die beiden mit ihren Aussagen von damals zu konfrontieren.“ 

Renauld Camus weist die Vorwürfe Verdragers auf seiner Internetseite von sich. Auch Alain de Benoist zeigt sich gegenüber der JF verärgert. Die Vorwürfe Verdragers seien „lächerlich, diffamierend und entbehren jeglicher Grundlage: Keiner der von mir veröffentlichten Texte, keine der von mir gemachten Aussagen enthält die geringste Verherrlichung oder Billigung von Pädophilie!“

In „Le grand Reversement“ macht ihm Verdrager eine 1986 erschienene Rezension des Skandalbuchs „Die unter 16jährigen“ von Gabriel Matzneff zum Vorwurf. Darin beklagt de Benoist einen heuchlerisch-puritanischen Umgang mit dem Werk Matzneffs: „Wenn ein Schriftsteller als die natürlichste Sache der Welt erklärt, daß er den fleischlichen Umgang mit sehr jungen Leuten den klassischen Schandtaten seiner Zeitgenossen vorzieht, dann genügt das – inmitten einer freizügigen Gesellschaft –, um ihn wie den Teufel im Pariser ‘Landerneau’ aussehen zu lassen.“ 

De Benoist spricht von einer „nachsichtig ironisierenden“ Rezension, in der es „kein Lob für Pädophilie“ gegeben habe. Die Neue Rechte habe eben, so beschrieb es einst der linke Politikwissenschaftler Stéphane François, „unabhängig von ihren Tendenzen immer eine liberale Einstellung zur Sexualität gehabt, zumindest in bezug auf die christlichen Normen“.

Der Hinweis auf angeblich rechte Pädophilieverherrlichung wird jedoch die Debatte um Michel Foucault nicht beenden. Foucaults Biograph, der US-Philosoph James Miller, gab vor zwei Wochen in der chilenischen Tageszeitung La Tercera an, von den Vorwürfen „nicht überrascht zu sein“. Dennoch warnte er davor, Foucaults Werk abzuschreiben. Und tatsächlich schneidet sich eine „rechte Cancel Culture“ ins eigene Fleisch. Zu viele postmoderne Denker sind von Foucault beeinflußt. Man mag ihn ablehnen, ein Verständnis heutiger Debatten gelingt allerdings nur über die Beschäftigung mit seinem Werk.