© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/21 / 23. April 2021

Der Geist erschafft sich die Form
„Göttliche Komödie“: Dante-Rezeption sorgt für deutsch-italienische Verwerfungen
Eberhard Straub

Den früheren Staatspräsidenten Giorgio Napolitano bekümmerte die zunehmende Entfremdung zwischen Deutschland und Italien. „Ohne einen lebhaften Gedankenaustausch, voller Respekt und Freundschaft, unter unseren beiden Völkern gibt es kein Europa und kann es keine Zukunft für ein vereinigtes Europa geben.“ Das rief er am 11. Dezember 2014 in Turin Deutschen und Italienern zu, die auf seine Veranlassung hin zusammengekommen waren, um über die deutsch-italienischen Beziehungen zu debattieren, deren unerfreulicher Zustand ihn sehr bekümmerte, ja beunruhigte.

Napolitano versteht sich wie die meisten gebildeten Italiener seiner Generation noch als Schüler des 1952 in Neapel gestorbenen Benedetto Croce. Dieser große Historiker und Philosoph in der Tradition Hegels, dieser leidenschaftliche Patriot, erfüllt vom Geist des nationalen Aufbruchs in der Epoche des Risorgimento (1815–1870), und unermüdlicher Verfechter der Eintracht in einem Europa der Vaterländer, war innig vertraut mit den immer neuen Formen eines nie unterbrochenen, jahrhundertelangen Gesprächs zwischen Italienern und Deutschen.

Taktlosigkeiten können Italiener irritieren

Die Hoffnung Giorgio Napolitanos auf eine deutsch-italienische Verständigung hat sich seitdem leider nicht erfüllt. Nicht zuletzt weil Deutsche es oft nicht allzu genau mit den liebenswürdigen Geboten des guten Geschmacks, der Höflichkeit und der Rücksicht nehmen, die nun einmal den Umgang auch unter Völkern und Staaten erleichtern. Italiener bleiben hingegen meist bemüht, cortesia und civiltà, wie der Dichter Dante Alighieri es ihnen empfahl, also Zivilisiertheit, möglichst nicht außer Acht lassen. Taktlosigkeiten können sie deshalb ungemein irritieren.

Eine jüngste Grobheit galt ausgerechnet am 25. März, dem Tag feierlich-festlichen Gedenkens an Dante, eben diesem unumstrittenen Vater des Vaterlandes und der italienischen Lebenskultur im umfassenden Sinne. Nicht einer Stadt, einem Hof, dem Adel oder dem Bürgertum verdankt Italien seine Sprache und den Zusammenschluß zu einer Kulturnation, bald vorbildlich für das übrige Europa, sondern der Einzigartigkeit dieses Florentiner Gelehrten, der vor siebenhundert Jahren gestorben ist. Seit seiner „Divina Commedia “– vollendet 1320/21 – gibt es die italienische Sprache, und seit ihm gibt es Italiener.

Goethe nannte mit äußerster Ehrfurcht Dante „eine Natur“, weil – wie diese – unerschöpflich in seinen Werken und immer überraschend. Gegen eine solche Überschätzung wehrte sich unlängst in der Frankfurter Rundschau Arno Widmann, der dort früher das Feuilleton geleitet hat. Der italienische Dantetag am 25. März schien ihm die beste Gelegenheit, Deutsche und Italiener darüber aufzuklären, daß Dante ein recht unangenehmer Zeitgenosse war, rechthaberisch, nie bereit anzuerkennen, daß nicht er, sondern eingewanderte Provenzalen die neue Kunst und die neue Sprache ermöglichten. Er sei ein Egomane gewesen, getrieben von seinem „sportlichen Ehrgeiz“, ihm bekannte arabische Überlieferungen von der Himmelsreise Mohammeds durch seine christliche „zu übertrumpfen“! Seine Lust am Urteilen und Verurteilen, ohne Mitleid mit den zur Hölle verdammten aufgrund seiner „religiösen Besessenheit“, sowie seine offenkundige Ungeduld mit den Menschen hinderten ihn daran, sich unbefangen auf die Wunder der Welt einzulassen. Das unterscheide ihn von Shakespeare, der mit moralischer Gleichgültigkeit den Menschen in seiner Umwelt schildert, wie sie ist, und „uns“ deshalb „Lichtjahre moderner“ als Dante vorkommt.

Es ist nicht sonderlich hilfreich, ausgerechnet „modern“ als ein ausschlaggebendes Kriterium zu verwenden, da nichts so schnell veraltet wie die jeweilige Moderne und wir ja angeblich schon seit Jahrzehnten in der Postmoderne leben. Wie postmodern sind dann Shakespeare oder Dante? Doch abgesehen von solchen Fragwürdigkeiten: Dante brauchte wahrlich keine arabischen Legenden, um in Konkurrenz zu ihnen seine „Göttliche Komödie“ zu entwickeln. Dante hat nie unterschlagen, in Traditionen zu stehen. Wanderungen im Jenseits, in der Unterwelt, waren im Orient und in der hellenisierten Kultur der Antike ein oftmals behandeltes Motiv. In diesen Zusammenhang gehören Geschichten zu Mohammeds Jenseitsreise, vorgetragen von Muslimen, die mit hellenistischer rund christlicher Literatur vertraut waren. Zum Begleiter durch die Hölle und beim Aufstieg des Läuterungsberges wählte sich Dante sein Vorbild, den römischen Dichter Vergil, der seinen Helden Aeneas in die Unterwelt geschickt hatte. Dante wird in der Unterwelt von Homer, Ovid und Lukan herzlich begrüßt und von ihnen als ihresgleichen anerkannt! Dante ist ihnen ebenbürtig, weil er auf seine eigenwillige Weise ihren Wegen folgt. Er kennt seinen Rang!  

Italien ist das Herz und das Gedächtnis Europas

Aber er hat deswegen nie Italien aus den Augen verloren. Seine Seelenlenkerin Beatrice begrüßt ihn kurz vor dem Paradies, der himmlischen Sphäre, in der Christus ein Römer ist für alle Zeiten. Italiener sollten nach Dantes Vorstellungen auf Erden wieder werden, was sie einst zur Zeit des Kaiser Augustus waren, nämlich Römer, und sich damit dem unter Augustus geboren Römer Christus annähern. Christus der Römer wirkt rettend und befreiend in dieser Welt mit Hilfe des Römischen Reiches und der Römischen Kirche. Dante wies mit Christus die Italiener auf Rom, auf die Hauptstadt des Römischen Reiches und der Römischen Kirche. Die Italia, das einige Italien, der Garten des Reiches und der Kirche, durfte sich nicht genügsam auf sich selbst beschränken. Sie stand in weiten Zusammenhängen, und die Italiener als Reichsvolk sollten vor deren Anforderungen nicht verzagen. Dante wies ihnen einen anspruchsvollen Weg, weil nämlich nur mit Italien Europa zu einer wohltätigen Wirklichkeit werden kann. Italien ist das Herz und das Gedächtnis Europas.

Es liegt nahe, daß in Italien das Grußwort des Arno Widmann zum Dantetag als Taktlosigkeit aufgefaßt worden ist. Der sozialdemokratische Kultusminister Dario Franceschini bemerkte lapidar: „Dante erinnert uns an viele Dinge, die zusammengehören: Dante, das bedeutet die Einheit des Landes, Dante, das meint die italienische Sprache, Dante, das ist  schlechthin die Idee Italiens!“

Mit diesen Worten resümiert der Minister das italienische Selbstverständnis, das trotz aller Spannungen Italiener seit siebenhundert Jahren vereint. Der Danteforscher Enrico Malato hält sich nicht  lange mit den Albernheiten und unhistorischen Argumenten Arno Widmanns auf, erinnert aber selbstbewußt an die Besonderheit Italiens: „Die meisten Sprachen Europas wurden durch die Macht verbindlich gemacht, Dantes Italienisch setzte sich wegen des Ansehens eines literarischen Werkes durch und das war einzigartig!“ Es ist eben der Geist, der sich die Form erschafft.

Deutsche müssen diese Ideen nicht teilen, vielen unter ihnen mißfällt überhaupt, daß immer noch recht unaufgeklärte „Menschen in Europa“ an längst überholten Vorstellungen wie Nation und Nationalsprachen, in denen sich ein besondere Mentalität ausdrücke, festhalten wollen. Aber sie könnten, im Sinne der civiltà Dantes und Italiens, der Höflichkeit und Rücksicht auf Eigenarten, schweigen, wie Luca Serriani, der Vizepräsident der italienischen Dante-Gesellschaft zu bedenken gibt.Die auflagenstarke Zeitung La Repubblica, mindestens so aufgeklärt und links wie Arno Widmann, hielt dessen wenig erhellenden Artikel eben auch aus geschmacklichen Gründen für einen unglaublichen Angriff aus Deutschland auf das Dante-Gedenken, auf den Dichter und Italien. Darin sind sich – ungeachtet parteipolitischer Unterschiede – fast alle Italiener einig, mit Ausnahme Roberto Savianis, des Lieblingsitaliener unter den Deutschen, die auf den Zeitgeist horchen. Wie eh und je warnt Saviani vor Chauvinismus und der Korruption der Seelen, die er verursacht.

Dante läßt sich nicht angemessen übersetzen

Übrigens mischt sich bei manchen Journalisten, wie etwa bei Valerio Benedetti in Il Primato nazionale, einem Magazin, das mit seinem Titel kundgibt, sich zur Nation und zu Italien zu bekennen, in ihrem berechtigten Ärger auch einige Enttäuschung, daß gerade in Deutschland, wo 1865 die erste Dante-Gesellschaft, noch vor der italienischen, gegründet worden war, ein solch dilettantischer Beitrag erscheinen konnte. Gerade deutsche Wissenschaftler haben die Dante-Forschung angeregt, woran er eindringlich erinnert. Es gibt außerdem keinen ausländischen Dichter, um den die Deutschen so inständig werben, wie um Dante. Mittlerweile gibt es fast 180 Versuche, mit Übersetzungen ihn den Deutschen nahezubringen. Weil er unerschöpflich wie die Natur ist, läßt er sich nicht angemessen ins Deutsche übertragen, wovon der Roman der Sibylle Lewitscharow „Pfingstwunder“, 2016 erschienen, handelt, ein Zeugnis mehr deutscher Liebe zu Dante und seiner Sprache.

Wirklich nationalistisch reagieren deutsche Berichterstatter auf die ihnen unverständliche Aufregung in Italien. Oliver Meiler in der Süddeutschen Zeitung mißversteht sie als antideutsche Reflexgeschichte und ist darüber ungehalten, daß es heißt, der peinliche Angriff komme „aus Deutschland“. Frankfurt liegt in Deutschland und Arno Widmann ist ein Deutscher, also kommt der Artikel aus Deutschland.

In der FAZ behauptet Karen Krüger umstandslos, daß „die Verunglimpfung Deutschlands“ in Italien, wie gewohnt, eine gute Auflage und Verbreitung garantiere. Kritik an einem deutschen Journalisten zu üben ist offenbar ein Zeichen böswilliger Absichten unbelehrbarer Italiener. Dante einmal etwas anders zu betrachten, soll hingegen als redlicher Versuch eines deutschen Aufklärers verstanden werden, Interesse für einen nicht mehr ganz zeitgemäßen Dichter zu wecken.

Da kann man nur verwundert den Kopf schütteln. Es ist der Mangel an Augenmaß und Lebensart, eben der civiltà, der in Italien immer wieder zu gereizten Stimmungen führt. Über diese notwendige Tugend unterrichtet Dante, der schon allein deswegen modern ist und bleibt, weil sie das Zusammenlebens im gemeinsamen Europa erleichtert.