© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/21 / 23. April 2021

Der Dexit-Beschluß der AfD: ein deutscher Sonderweg
Ein Bauchgefühl-Fehler
David Engels

Soeben fand der „Programmparteitag“ der AfD statt, der bislang größten deutschen Oppositionspartei, der die Weichen für die anstehende Bundestagswahl stellen sollte. Interessanterweise fand dabei eine unerwartete Schärfung des europapolitischen Profils der Partei statt: Eine Mehrheit der etwa 550 anwesenden Delegierten sprach sich für einen Austritt Deutschlands aus der EU aus: „Wir halten einen Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union und die Gründung einer neuen europäischen Wirtschafts- und Interessengemeinschaft für notwendig.“ Begleitet werden soll dieser Austritt auch von der Abschaffung des Euro und der Rückkehr zur D-Mark. Wie hat man diesen Beschluß, der den erheblich behutsameren Euroskeptizismus der gegenwärtigen AfD-Spitze faktisch desavouiert, zu bewerten?

Kurz gesagt, könnte man formulieren: Nachdem die AfD bereits innenpolitisch – teilweise unfreiwillig, teilweise selbstverschuldet – in die Rolle des völligen Außenseiters geraten ist, katapultiert sie sich nunmehr auch im Rahmen der anderen konservativen euroskeptischen Parteien ins Aus. Der eigentliche politische Kampf um die Zukunft Deutschlands – ja um die Zukunft aller europäischen Nationen – wird nicht mehr auf nationalem Parkett ausgefochten, sondern in Brüssel, und die EU-Institutionen liefern eben nicht nur für die deutschen, sondern für alle Konservativen den Schlüssel zur Durchsetzung ihrer Ziele.

Doch während die anderen konservativen EU-Parteien in Frankreich, Italien, Spanien, Ungarn oder Polen dieses Axiom längst begriffen haben und an einem übergreifenden gesamteuropäischen Bündnis tüfteln, schlägt die deutsche AfD den Nachbarn lieber die Tür vor der Nase zu, anstatt mit taktischer Klugheit vorzugehen. Da die gegenwärtigen deutschen Eliten einem radikalen Europäismus frönen, haben sich die Delegierten der AfD von ihrem nicht unverständlichen, aber nichtsdestoweniger naiven Bauchgefühl verführen lassen, eine ebenso radikale wie – sollte sie langfristig beibehalten bleiben – selbstzerstörerische Gegenposition zu übernehmen. Joseph Fouché, weiland Polizeiminister Napoleons, würde hierzu wohl sagen: „C’est pire qu’un crime, c’est une faute“ („Dies ist schlimmer als ein Verbrechen, es ist ein Fehler“).

Das Gerede von einem deutschen Austritt aus EU und Euro und von einer Rückkehr zu einem lockeren und unverbindlichen Wirtschaftsverband wie in den angeblich „guten alten“ achtziger Jahren scheint aus vielerlei Gründen ebenso naiv wie gefährlich.

Nun sei betont, daß die Kritik an der real existierenden Europäischen Union und der Wunsch nach einer tiefgreifenden, konstruktiven Reform der europäischen Institutionen vollkommen berechtigt ist: Das heutige „Kidnapping“ der europäischen Idee durch linke Ideologen in Brüssel wie Berlin beschädigt systematisch und willentlich die historische kulturelle Identität des Kontinents, schwächt die nationalen Demokratien und schlägt gerade in Anbetracht von „Eurorettung“, „Great Reset“ und „Green Deal“ einen wirtschaftlichen Kurs ein, der die letzten Reste der alten Mittelklasse zugunsten einer immer größeren Polarisierung der Gesellschaft erdrücken wird und zudem zum Trittbrett der eigenen politischen Selbstermächtigung zu werden droht.

Doch das Gerede von einem deutschen „Austritt“ aus EU und Euro und von einer Rückkehr zu einem lockeren und unverbindlichen Wirtschaftsverband wie in den angeblich „guten alten“ 1980ern scheint aus vielerlei Gründen ebenso naiv wie gefährlich. Eine radikale Opposition gegen die EU mochte in einem traditionell isolationistischen, peripheren, insularen Staat wie dem Vereinigten Königreich eine (äußerst knappe) Mehrheit erreichen, wenn auch hier die Folgen, deren schlimmste die mögliche Abspaltung Schottlands sein könnte, kaum als sekundär vom Tisch zu wischen sind. In Deutschland aber, dem wirtschaftlichen und politischen Herzland Europas, dessen gesamte Staatsraison und kollektive Identität seit dem Trauma der Weltkriege auf einer unbedingt pro-europäischen Haltung aufgebaut ist, wird eine Dexit-Propaganda langfristig jegliche Mehrheitsbildung oder Regierungsbeteiligung der AfD unmöglich machen.

Vielleicht mag eine radikale Dexit-Forderung den aktuellen Niedergang der AfD bei den nächsten Wahlen tatsächlich ein wenig abbremsen, ja ihr neue (Protest-)Wählergruppen erschließen. Sie wird aber auch eine nahezu unüberwindliche Schranke nach oben hin ziehen und vor allem auf europäischer Ebene die sich gerade vollziehende Annäherung an die anderen EU-skeptischen Parteien im Keim ersticken. Ist es das wert?

Selbst Marine Le Pen hat mittlerweile verstanden, daß ihre Forderung nach einem „Frexit“ und einem Ausstieg aus dem Euro sie die Präsidentschaftswahlen gekostet hat: Lohnt es sich, für einen Kurzstreckengewinn bei einigen Protestwählern die langfristige, ohnehin beständig von innen und außen attackierte Glaubwürdigkeit zu opfern und ein Programm zu verabschieden, von dem man jetzt schon weiß, daß man es nicht respektieren will, nicht respektieren kann?

Denn schlimmer noch als die innenpolitischen Konsequenzen einer solchen Forderung ist die Kurzsichtigkeit, mit der die langfristigen Folgen ignoriert werden, die sich aus einem (völlig hypothetischen) Erfolg dieser Forderungen ergeben würden: Ein Europa, in dem die „kleineren“ Nationalstaaten ganz der deutschen Exportwirtschaft und dem Druck der deutschen Außenpolitik ausgeliefert wären, ohne – wie in den bisherigen europäischen Institutionen – Möglichkeiten zur politischen Mitbestimmung und Koordination zu haben, wäre rasch nicht mehr geneigt, sich zum wirtschaftlichen „Hinterland“ der Bundesrepublik degradieren zu lassen. Es würde sich nach auswärtigen Bündnispartnern umsehen, um die eigene Autonomie zu wahren: „You cannot have your cake and eat it too“, heißt ein in der deutschen Politik (auch auf linker Seite) seit mehr als einem Jahrhundert geflissentlich ignorierter Leitspruch angelsächsischer Pragmatik. Kann es im deutschen Interesse sein, wenn seine Nachbarn Grenzen schließen, Schutzzölle erheben und sich zunehmend von europäischen Partnern zu Satelliten Chinas, Rußlands, der USA oder Saudi-Arabiens wandeln? Schwerlich.

China schickt sich an, zur bestimmenden eurasischen Hegemonialmacht zu werden. Ist das der Moment, Europa zu einem Flickenteppich von Zwergstaaten zu machen, zu einem Schachbrett, auf dem andere Großmächte ihre Konflikte austragen?

Afrikas Bevölkerung explodiert und drängt nach Europa; die muslimische Welt wünscht nichts sehnlicher als eine Revanche für ihre ehemalige koloniale Unterdrückung durch den Westen; die USA sind instabiler denn je; die Zukunft Rußlands und seiner gewaltigen Bodenschätze (und Nuklearwaffen) ist völlig unbestimmt; und China schickt sich an, zur bestimmenden eurasischen Hegemonialmacht des 21. Jahrhunderts zu werden. Ist das der Moment, Europa zu einem Sammelsurium von drei Dutzend obskuren Kleinstaaten zu machen, von denen die meisten gerade einmal der Größe und dem Wirtschaftspotential einer mittleren chinesischen Stadt entsprechen?

Sollte das Abendland tatsächlich zu einem Flickenteppich krisengeschüttelter Zwergstaaten werden, in dessen Mitte ein „unabhängiges“, außenpolitisch zunehmend eingekreistes und schon seit langem technologisch, wirtschaftlich und kulturell abgeschlagenes Deutschland steht; ein Schachbrett, auf dem andere Großmächte ihre Konflikte austragen wie einst in den Kleinstaaten des Heiligen Römischen Reichs während des Dreißigjährigen Krieges?

Deutschland und Europa brauchen in der Tat eine neue Form europäischer Zusammenarbeit und eine Brechung der Brüsseler Bürokratie, aber vor allem eine Rückbesinnung auf die historischen Grundwerte des Abendlandes: Nicht im Euro, in den Institutionen oder der Wahl zwischen „Föderalismus“ oder „Wirtschaftsgemeinschaft“ liegt das Problem, sondern vor allem im Geist, der Europa beseelt. Auch ohne Einbindung in die Europäische Union kann Deutschland, wenn es in den Händen einer linksgrünen Regierung ist, wahre kultur- wie sozialpolitische Katastrophen für seine Bürger heraufbeschwören. Eine EU aber, die von einem konservativen Geist beseelt wäre, könnte die materiellen Interessen und kulturellen Kräfte Deutschlands stärker beflügeln, als es eine nationale Regierung je vermöchte, und dem Kontinent endlich seine Gleichwertigkeit mit und Äquidistanz zu den anderen weltpolitischen Akteuren sichern und ihn zu einem starken und autonomen Großwirtschaftsraum werden lassen.

Dies ist der wirkliche Kampf, den es aufzunehmen gilt, und er läßt sich nur im Bündnis mit den konservativen Partnern in ganz Europa, nicht gegen sie bestehen. Es steht zu hoffen, daß auch die AfD aus lauter Ressentiments gegen die EU den Kampf für das Abendland nicht aus den Augen verliert.






Prof. Dr. David Engels, Jahrgang 1979, ist Professor für Römische Geschichte in Brüssel und forscht am Posener West-Institut (Instytut Zachodni). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Europa und den Konservatismus der Zukunft („Abendland und Christentum“, JF 33/20). Der vorliegende Text erschien zuerst in der Reihe „Kommentare aus dem West-Institut“.

Foto: Nicht weglaufen! Was würde die Forderung nach einem deutschen EU-Austritt mehr bringen als kurzfristigen Gewinn bei Protestwählern? David Engels plädiert für Drinbleiben, weil in Brüssel die Musik spielt.