© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/21 / 23. April 2021

Wenig Weber und viel Kafka
Wissenschaft als gruppendynamisches Wohlgefühl: Jugend forscht gegen Europas „Migrationsregime“
Dirk Glaser

Großzügig unterstützt vom Schweizerischen Nationalfonds, haben der Berner Rechtssoziologe Tobias G. Eule und die drei Postdoktorandinnen Lisa Marie Borrelli, Annika Lindberg und Anna Wyss den Alltag der Einwanderungspolitik der Europäischen Union „teilnehmend beobachtet“ und analysiert. Im Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung, des „Reemtsma-Instituts“, präsentieren sie nun das Ergebnis ihrer Erhebungen unter dem etwas hochtrabenden Titel einer „Ethnographie des europäischen Migrationsregimes“.  

Tatsächlich erkunden die vier Sozialwissenschaftler während ihrer „Feldforschungen“ aber keine exotischen Völker, sondern die Routine der Türhüter der EU, der Vollstrecker der Ausländergesetze ihrer Mitgliedsstaaten. Es handelt sich um jenes Fußvolk der in vorderster Front den Zugang kontrollierenden „Streetlevel-Bürokratie“, das die EU-Außengrenze bewacht, in Ausländerbehörden für die bürokratische Kanalisierung des Massenansturms zuständig ist, in der Justiz Asylanträge entscheidet und in Abschiebeanstalten eher seltene „Rückführungen“ organisiert.

Ihre Arbeitshypothese leiten die Verfasser ab aus dem Vergleich zweier Bürokratie-Modelle, dem Max Webers (1864–1920) und dem Franz Kafkas (1883–1924). Für den Soziologen Weber ist Bürokratie im Idealfall eine perfekt funktionierende Maschinerie, die der „rationale Staat“ westeuropäischen Zuschnitts zur Bewältigung der Daseins-probleme moderner Massengesellschaften einsetzt. Der Literat Kafka hingegen zeichnet in Texten wie „Vor dem Gesetz“ und „Der Prozeß“ das düstere Bild einer höchst dysfunktionalen, selbstzweckhaften und menschenfeindlichen Bürokratie, für den sich seit langem das Synonym „kafkaesk“ eingebürgert hat. 

Nach der Auswertung ihres zwischen 2015 und 2018 im Aktenstudium, in Workshops und Interviews mit „Akteur*innen“ der Migrationskontrolle in Schweden, Dänemark, Deutschland, Österreich, Italien, Lettland, Litauen und in der Schweiz ebenso wie mit „Geflüchteten“ gesammelten Materials meinen die Verfasser, im „Migrationsregime“ der EU sehr viel Kafka und nur wenig Weber entdeckt zu haben.

Wenig Interesse an straffer Steuerung der Migration

Die damit getroffene Feststellung, daß zwischen einem Gesetzestext und seiner praktischen Ausführung oft eine tiefe Kluft besteht, die leicht den Eindruck erweckt, gesetzliche Regelungen schüfen bestenfalls „chaotische Ordnungen“, ist allerdings eine rechtssoziologische Binsenweisheit. Die sich allemal bestätigt, wenn die Praxis so uneinheitlich und so wenig harmonisiert ist wie die supranationale Brüsseler Migrationspolitik. Hinzu kommt in diesem „löchrigen System“, das mehr „Krise als Kontrolle“ sei, daß die meisten nationalen Bestimmungen seit Angela Merkels „Öffnungsorgie“ vom Sommer 2015 Carl Schmitts Sarkasmus vom „motorisierten Gesetzgeber“ harte Konturen verleihen. 

Allein Dänemark hat, wie die Verfasser beklagen, zwischen 2015 und 2017 sein Ausländergesetz 67mal restriktiv verschärft, den vorwiegend muslimischen Familiennachzug eingedämmt, die häufigste „Fluchtursache“ Sozialhilfe gekürzt, an die inzwischen unerwünschten „Gäste“ klare Signale in Richtung Rückkehr ausgesendet. Sehr im Unterschied zum dummstolzen „Einwanderungsland Bundesrepublik“, dessen Kanzlerin 2010 zwar das Scheitern des Multikulturalismus konstatierte, das sich seitdem aber unter ihrer Führung „substantiell liberalisiert“ habe und das heute europäischer Multikulti-Vorreiter sei. Wovon auch der generöse Umgang vieler amtlicher Entscheider hierzulande zeuge, die im Zweifel die „bestmögliche Lösung“ für ins deutsche Sozialsystem einströmende Asylforderer wählen, die Weichen für das Bleiberecht stellende Duldung oder die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, selbst wenn der Antragssteller offenkundig exzessiv trickst, täuscht und betrügt. 

Für die Autoren ist das jedoch zulässiger Widerstand, zu dem gerade die kafkaeske „Unlesbarbarkeit“ einer unzählige Schlupflöcher und Gewinnchancen in der „Asyl-Lotterie“ bietende, den meisten staatlichen Türhütern weite Ermessensspielräume absteckende Migrationspolitik der „vielen Hände“ ermuntere. Zudem scheine den Urhebern des Verfahrens an einer allzu straffen bürokratischen Steuerung schon deshalb nichts zu liegen, weil kein Politiker „die Nachfrage neoliberaler Märkte nach billigen und möglichst rechtlosen Arbeitskräften“ ignorieren dürfe. 

Obwohl das realexistierende Migrationsregime nach dem Resultat ihrer „Feldforschungen“ einer „Flickschusterei“ gleicht und Max Webers Ideal effizienter Bürokratie spottet, plädieren die Autoren nicht etwa für dessen mehr Abschottung gegen den „Großen Austausch“ garantierende Reform. Stattdessen stellen sie es „grundsätzlich in Frage“, weil sie wie das Gros der Bekenntnis mit Erkenntnis verwechselnden „Migrationsforscher“ Angela Merkels phantastischer Ansicht huldigen, Grenzen ließen sich im Zeitalter der Globalisierung gar nicht schützen und seien so überflüssig wie Nationalstaaten.

Wer vom Kunsthistoriker Aby Warburg gelernt hat, auf den Teufel zu achten, der stets im Detail steckt, der schenkt bei Text- oder Bildinterpretationen auch vermeintlich marginalen Schnörkeln Aufmerksamkeit. Zum Beispiel Danksagungen. Wenn sie sich, wie hier, über mehrere Seiten erstrecken, versprechen sie reiche Ausbeute für eine, um ein Wort des Untertitels zu verwenden, „ethnographische“ Mentalitätsstudie. Den Einstieg begünstigt dabei der Fingerzeig des Vornamens der Autorin Annika Lindberg. Heißt doch die ziemlich beste Freundin Pippi Langstrumpfs ebenfalls Annika. Daher entfaltet sich schier die Kraft des Namenszaubers, wenn die Danksagung sprachlich mitten hineinführt in Astrid Lindgrens anheimelnden Kinderkosmos, den diese Vertreter der Generation Fun wohl nie verlassen haben. Dazu zwei Kostproben aus dem mittels Gendergaga-Sternchen wahrlich bis zur Unlesbarkeit zerfetzten Text: „Annika bedankt sich bei Lisa, Tobias und Anna für die inspirierenden Auseinandersetzungen, den Spaß und das Zusammensein.“ Und Mitstreiterin Anna wiederum bedankt sich bei „Annika, Lisa und Tobias für erschöpfende wie lehrreiche Diskussionen und für emotionalen Beistand“. Den sie, neben dem mit einem „riesigen Dankeschön“ quittierten „bedingungslosen Beistand“ ihrer Eltern, überdies erhielt von den „Freund*nnen“ Dani, Flavia, Flo, Sally, Zeynep usw. – das akribisch aufgelistete Hilfspersonal des Quartetts erreicht locker Kompaniestärke. 

Rassistisches Kontrollregime und arme „Ausgegrenzte“ 

Wie bei Kindern üblich, wagen sich diese ewig schutzbedürftigen Jungakademiker also nur in Begleitung hinaus aufs Forschungsfeld. Zu Expeditionen, bei denen es ihnen primär nicht auf wissenschaftlich objektivierbare Wahrheitsfindung ankommt, sondern auf den genußreichen „Spaß“ gruppendynamischen Wohlgefühls. Das am zuverlässigsten rauszukitzeln ist, wenn man sich durch die Ausklammerung häßlicher Fakten dieses wonnige Schneeflöckchen-Glück nicht kaputtmachen läßt. 

Darum gilt es am Ende, ein klippschulkonformes Weltbild festzuzurren, das die brutale Wirklichkeit enthemmten Asylmißbrauchs im märchenhaften Kindergartenschema abbildet. Mit dem Opferpersonal der guten „ausgegrenzten Anderen“, die nur ihr persönliches „Migrationsprojekt vollenden“ wollen, und den bösen Tätern „Unheil produzierender Migrationskontrollregime“, die agieren, als seien ihre Rollen „rassistischen und kolonialistischen Drehbüchern entlehnt“. Eine Deutung, die mehr als nur den Anfangsverdacht nährt, im globalen Norden geht die quotengetriebene Feminisierung des ideologischen Überbaus mit dessen gnadenloser Infantilisierung einher. 

Tobias Eule, Lisa Marie Borrelli, Annika Lindberg, Anna Wyss: Hinter der Grenze, vor dem Gesetz. Eine Ethnographie des europäischen Migrationsregimes. Hamburger Edition, Hamburg 2020, gebunden, 341 Seiten, 32 Euro