© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/21 / 23. April 2021

Ein Thomas Müntzer aus Südtirol
Bauernrebell, Freiheitskämpfer und Zwingli-Vertrauter: Michael Gaismair in der zeitgeistigen Interpretation
Wolfhard H. A. Schmid

Die heute noch lückenhafte Biographie von Michael Gaismair ergibt folgende Eckdaten. Geboren um 1491/92 in Tschöfs, unweit von Sterzing in Südtirol als Sohn eines Bergwerkunternehmers und Landwirtes. Nach schulischer Ausbildung war Gaismair Schreiber im Tiroler Bergbau, später in Diensten des Landeshauptmannes Leonhard von Völs und des Landesbischofs von Tirol in Brixen. 1524 wird er zum Hauptmann ernannt. Ob er Jura studierte, ist umstritten, weil dieses Studium damals nur Adligen vorbehalten war. 

Als Gaismair in Brixen mit dem Fall des Fischers Peter Päßler konfrontiert wird, der sich gewaltsam gegen den Entzug der Fangrechte wehrte und deshalb zum Tode verurteilt wurde, befreien bewaffnete Bauern Päßler und es bricht ein Aufstand aus. Die Bauern plündern die Häuser Brixener Adliger und erstürmen die Hofburg. Gaismair schließt sich als Obrist den Aufständischen an. Als Bauernführer verhandelt er im einberufenen Landtag mit dem Tiroler Regenten Ferdinand I. 

Etliche Forderungen der Bauern werden zunächst erfüllt, aber schon bald distanziert sich der Erzherzog von den Zugeständnissen und geht gewaltsam gegen die Aufständischen vor. Gais

maier flieht in die Schweiz, wo er in Zürich den Reformator Zwingli kennenlernt, der ihn 1516 zum Entwurf einer Tiroler Landesordnung für eine Republik auf christlicher Basis anregt, in der die Menschen ihre Regierung und ihre Richter frei wählen. Alle Gesetze basieren auf dem Wort Gottes, einer Selbstverwaltung der Gemeinden, Arme und Kranke werden vom Staat unterstützt, Brixen wird Hauptstadt, Trient das Handwerkszentrum, und Binnenzölle werden durch Außenzölle an den Landesgrenzen ersetzt.

Im Frühjahr 1526 kommt es zu Bauernaufständen in Salzburg. Gaismair hilft ihnen und übernimmt deren Führung. Nach Anfangserfolgen werden die Aufständischen aber bei der Belagerung von Radstadt im Salzburger Land geschlagen. Gaismair muß mit 1.500 Gefolgsleuten fliehen, sie finden Asyl in der Republik Venedig. Von dort aus versucht er seinen Freiheitskampf fortzusetzen. Aus Sorge, daß seine Landesordnung Schule macht, hat Erzherzog Ferdinand I. zwischenzeitlich ein Kopfgeld auf Michael Gaismair ausgesetzt. Am 15. April 1532 ist einer der vielen Anschläge erfolgreich, Gaismair wird in seinem Palais bei Padua von drei Männern erstochen.

Seit seiner Ermordung wird jedes Gedenken an Michael Gaismair in der Habsburgermonarchie jahrhundertelang unterdrückt, er lebte bis ins 19. Jahrhundert nur in den Legenden seiner Tiroler Landsleute weiter. Erst mit der Märzrevolution von 1848 änderte sich das. In Anlehnung an die Erstausgabe des Werkes „Allgemeine Geschichte des großen Bauerkrieges“ des Erlanger Historikers Wilhelm Zimmermann von 1847 holte ihn Friedrich Engels in seinem Aufsatz „Der Deutsche Bauernkrieg“ in der von Karl Marx herausgegebenen Neuen Rheinischen Zeitung aus dem Dunkel der Geschichte zurück. Zimmermann verschwieg jedoch seine Tiroler Landesordnung und lobte ihn nur als militärischen Strategen. Viel später sollte es DDR-Historikern vorbehalten bleiben, ihn als Vorreiter des Kommunismus zu loben, nachdem der sowjetische Historiker Moisei Mendelevich Smirin 1947 sein Buch „Die Volksreformation des Thomas Müntzer und der große Bauernkrieg“ veröffentlicht hatte.

Politische Vereinnahmung von allen Seiten

Als ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Tirol der Wunsch eines alldeutschen Nationalstaates in konservativen und nationalliberalen Kreisen immer größer wurde, diente Gaismair neben Andreas Hofer als Mythos für die Befreiung vom Feudalismus. Protagonist war der Dichter Franz Kranewitter. Nach 1933 idealisierten ihn dann die Autoren Alfred E. Frauenfeld, Karl Itzinger, Karl Springenschmid und Josef Wenter als tragische Führungsgestalt. Und noch 1947 liest sich die verfaßte Geschichte von Stefan Hochrainer, der Michael Gaismair als Vorbild mit aufrechter Gesinnung darstellte, ganz im Gegensatz zu seinem intrigenhaften Gegenspieler Salamanca, der aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie mit jüdischen Wurzeln stammte und als engster Vertrauter von Herzog Ferdinand und des Augsburger Kaufmannsgeschlechts der Fugger eine wichtige Rolle im Tiroler Bauernkrieg spielte. 

Ende der 1960er Jahre kam es in Südtirol durch die „Sozialistische Michael Gaismair Bewegung“ und die „Südtiroler Volkspartei“ zu ganz unterschiedlichen politischen Vereinnahmungen. Das Bild des Südtiroler Politikers Hans Benedikter von Gaismair entsprach auch wissenschaftlichen Maßstäben, jedoch mit der Einschränkung, daß er Gaismairs Kampf für die Bauern als ein christlich-demokratisches Programm postulierte und damit politisch nutzte. 

Die 1983 erschienene Arbeit von Angelika Bischoff-Urack ist trotz sorgfältiger Recherche vom Zeitgeist geprägt. Sie glaubt aus den vorliegenden Dokumenten bei Gaismair ausschließlich persönlichen Ehrgeiz zu erkennen. Als Beweis führt sie auch an, daß sein Karriereknick beim Landeshauptmann Völs auf Lebensstil und Unterschlagungen zurückzuführen sei. Damit sei seine Erhebung in den Adelsstand für die damalige Führungsschicht untragbar geworden, was sein späteres Engagement für die unteren sozialen Schichten erklären würde. 

Diese Beispiele zeigen, daß der historische Michael Gaismair immer wieder bewußt für politische Zwecke genutzt wurde. Die jeweilige Weltanschauung läßt sich wie ein roter Faden durch seine Rezeption ziehen. Eine Ausnahme hierzu war vielleicht der Tübinger Historiker Jürgen Bücking, dessen quellengesättigte Arbeit über Gaismair von 1978 sich dem weltanschaulichen Gedankengut Gaismairs und dem politischen Umfeld zu Beginn des 16. Jahrhunderts annäherte.