© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/21 / 23. April 2021

Als „Kirchenjuste“ für einen Tag die Monarchie wachrief
Jörg Kirschstein würdigt in einem Bildband die vor hundert Jahren verstorbene Kaisergattin Auguste Victoria
Matthias Bäkermann

Genau das wollten die Offiziellen der jungen Republik vermeiden. Die preußische Staatsregierung hatte die Beisetzung der kurz zuvor am 11. April im niederländischen Exil in Doorn verstorbene Kaisergattin Auguste Victoria nur unter der Maßgabe in Potsdam genehmigt, daß es sich um eine private Feier handelte. Die Hofverwaltung war angehalten, den Trauerzug entsprechend kurz zu planen. Und obwohl das Haus Hohenzollern diese Forderung befolgte und pingelig nur jeweils vier Mitglieder der vielen Institutionen zuließ, in denen Auguste Victoria wirkte, sollte sich die Trauerfeier zu einer der größten offiziellen Veranstaltungen nach dem Fall der Monarchie entwickeln.

Das alte Kaiserreich lebte praktisch noch einmal auf, als am 19. April 1921 etwa 230.000 Menschen den Trauerzug säumten, der die knapp zwei Kilometer vom „Kaiserbahnhof“ zur Gruft am Neuen Palais zog. Sämtliche führenden Honoratioren der alten Ordnung aus Adel, Militär, Kirche, Kunst und Verwaltung boten sich ein Stelldichein mit Dutzenden Chargierten von Studentenverbindungen, Tausenden Schülern und Bürgern aus Potsdam und Berlin. Die vielen Pickelhauben der Offiziere aus maßgeblichen preußischen Regimentern, deren Fahneneid seit 1919 „der Reichsverfassung und dem Reichspräsidenten“ galt, ließen kaum den Eindruck zu, daß die Monarchie aufgehört hatte  zu existieren. Nur der Kaiser, der fehlte.

Karitatives und kirchliches Engagement der Kaiserin

Mit einer Fehleinschätzung begann bereits die Ehe der 1858 geborenen Auguste Victoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg. Eingefädelt durch ihre spätere Schwiegermutter Kronprinzessin Victoria, verlobte sie sich 1880 mit dem fast gleichaltrigen  Wilhelm, zu diesem Zeitpunkt Enkel des Deutschen Kaisers. „Vicky“, älteste Tochter der englischen Queen Victoria und politisch ambitioniert, glaubte in ihrer Taufpatin und Nichte aus dem spätestens nach dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 zwar hochadligen aber machtlosen Hause Sonderburg die Idealbesetzung und eine spätere Verbündete zu erkennen. Mit ihr wollte sie nach der Thronübernahme ihres Gatten Friedrich ihre isolierte Stellung am Hof überwinden und eine liberalere Politik lancieren, die sich speziell gegen Reichskanzler Bismarck richtete. Letzterer stemmte sich aus genau den gleichen Ahnungen lange gegen eine Ehe Wilhelms mit Auguste Victoria.

Stattdessen hatte sich die Prinzessin sehr zur Enttäuschung ihrer Schwiegermutter in den ersten Ehejahren schnell „auf die reaktionär-konservative Seite ihres Mannes geschlagen“, wie der Hohenzollern-Spezialist Jörg Kirschstein in seinem aktuellen, reich illustrierten „Porträt einer Kaiserin“ urteilt. Spätestens mit der Thronfolge Wilhelms 1888 nach der nur 88tägigen Regentschaft seines todkranken Vaters sollte sich das Verhältnis der jungen Kaisergattin zur sich nun „Kaiserin Friedrich“ nennenden Victoria bis fast zur Zerrüttung verschlechtern. „Ihr Stolz ist so gewaltig und sie hält sich für alles besser als alle anderen, da sie die Kaiserin ist“, beklagte sich diese in Briefen an ihre Mutter im Londoner Buckingham-Palast.

Auguste Victoria hatte bereits zu Beginn der Regentschaft ihres Mannes Kaiser Wilhelm II. die vornehmste aller Pflichten einer Monarchin, die Thronfolge durch einen männlichen Erben zu sichern, gleich vierfach erfüllt. Ihren vier Söhnen Wilhelm, Eitel Friedrich, Adalbert und August sollten danach bis 1892 noch drei weitere Kinder (Oskar, Joachim und Viktoria Luise) folgen. Folglich konnte sich die Monarchin anderen Dingen widmen. Mit der Übernahme von über 140 Protektoraten wurde Auguste Victoria bedeutende Schirmherrin zahlreicher karitativer und kirchlicher Einrichtungen. Als fromme Christin und Gemahlin des staatlichen Oberhauptes der evangelischen Kirche versuchte Auguste Victoria ihren Einfluß zur Stärkung der Kirche in der durch Industrialisierung und Bevölkerungswachstum geprägten wilhelminischen Gesellschaft auszubauen. 

Unter Einwirkung evangelischer Theologen wie Adolf von Harnack und Friedrich von Bodelschwingh richtete sie ihr Augenmerk auf das wirtschaftliche Elend des Proletariats, das für sie oft mit „religiös-sittlichem Notstand“ einherging. Als Anhängerin der „inneren Mission“ setzte sie zusammen mit ihrem Oberhofmeister Ernst Freiherr von Mirbach den Bau von über hundert evangelischen Kirchen um, vorwiegend in den städtischen Arbeiterquartieren. Aus diesem Engagement entsprang im Berliner Volksmund ihr bald im ganzen Reich kursierender Spitzname „Kirchenjuste“. Mit der Gründung des „Evangelischen Kirchenhilfsvereins“ weitete die Kaiserin ihre soziale Arbeit mit der Gründung von Hospitälern oder dem Krippen-Verein aus, „der für kleine Kinder armer Arbeiter sorgt“, wie sie um Fürsprache am Hof warb. Neben dem Kampf gegen Säuglingssterblichkeit rückte die Benachteiligung der Frau in den Fokus. 1899 regte sie die Gründung der „Evangelischen Frauenhilfe“ an, die bis 1912 bereits 2.400 Vereine im Deutschen Reich mit 250.000 Mitgliedern besaß.

Während des Ersten Weltkriegs besuchte die „Landesmutter“ als Schirmherrin des Roten Kreuzes ohne Unterlaß Lazarette und Soldatenheime. Innerhalb der kaiserlichen Familie führte das zu großen Spannungen zu den Prinzessinen, da ihre Schwiegertöchter wenig Lust verspürten, es ihr gleichzutun, sondern „lieber den ganzen Tag zu ihrem Vergnügen herumtoben und sich vor ihren Pflichten drücken“. Oberhofmeissterin Gabriele von Alvensleben ahnte deshalb bereits 1917, daß „beim Volk mit seinem feinen und gerechten Gespür unser Herrscherhaus mit sehr gemindertem Ansehen aus dem Krieg hervorgehen wird“. Immerhin war bei der Bestattung Auguste Victorias von dieser dann im November 1918 offenkundig zutage tretenden Distanz zum Thron zumindest für einen Tag wenig zu spüren.

Jörg Kirschstein: Auguste Victoria. Porträt einer Kaiserin. Bebra Verlag, Berlin 2021, gebunden, 192 Seiten, Abbildungen, 28 Euro