© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/21 / 23. April 2021

Gescheiterte Fluchtversuche
Der wegen „Republikflucht“ inhaftierte Liedermacher Detlef Jablonski schildert seine Odysse im real existierenden Sozialismus
Jörg Bernhard Bilke

Der SED-Staat ist 1989/90 untergegangen, aber die Erinnerungen an über vierzig Jahre Unrecht und Willkür sind bis heute höchst lebendig. Beispielsweise bei dem Ex-Häftling Detlef Jablonski in Berlin, der heute 65 Jahre alt ist und als Zeitzeuge in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen unwissenden Besuchern Rede und Antwort steht.

Er wurde 1955 im Haftkrankenhaus von Jerichow/Sachsen-Anhalt geboren, weil seine Mutter Maria wegen Hehlerei zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Da sie wegen der kargen Gefängniskost keine Muttermilch hatte, um ihren Sohn zu stillen, kam er zwei Wochen nach der Geburt ins Waisenhaus und von dort zu Tante Lene, der älteren Schwester seiner Mutter, und Onkel Kurt, die privilegiert in der Ost-Berliner Stalinallee wohnten.

Dort ging es ihm, bis er 1973 volljährig wurde, denkbar schlecht. Er wurde seit seinem fünften Lebensjahr mehrmals in der Woche vom Onkel mit dem „Siebenstriem“ ausgepeitscht: „Ich mußte mich auf dem Korridor nackt ausziehen. Alle Türen wurden verschlossen, und dann ging es los. Ich konnte zusehen, wie der Lederstriemen um meinen Arm schnellte oder das Ende vorn an der Brust sich in die Haut einschnitt. Die Stelle wurde erst blau, dann lila und dann rot. Wenn die Haut aufplatzte, fing es an zu bluten (...) Seit ich in die Schule ging, gab es zwei- bis dreimal in der Woche Prügel: mit Pantoffeln, mit den spitzen Hacken von Schuhen, mit dem Kochlöffel, mit nassen, eklig stinkenden Abwaschlappen oder eben mit dem Siebenstriem.“

Flucht aus der DDR als letzter Ausweg 

Dem verstörten, ständig verheulten Kind war alles verboten, was eine fröhliche Kindheit ausmachte. Er durfte nicht mit anderen Kindern spielen, er durfte nicht dem Schulchor beitreten, stattdessen wurde er wie ein Haussklave gehalten, er mußte den Abwasch erledigen und die Wohnung sauberhalten und mitunter dreimal am Tag einkaufen. Wenn Lene für Stunden bei der Nachbarin zum Tratschen verschwand, wurde er ins Schlafzimmer eingesperrt. Es war eine unglückliche Kindheit, wie sie schlimmer kaum hätte sein können!

Zweimal unternahm er, was man ihm nicht verdenken konnte, Fluchtversuche über Prag nach Bayern. Da er aber am Ostbahnhof keine Rückfahrkarte gekauft hatte, wurde er einmal hinter Chemnitz, einmal hinter Dresden aus dem Zug geholt. Nach der zweiten „Republikflucht“ fand man den geplanten Fluchtweg von Dresden über Prag nach Budweis in seinem Schulatlas eingezeichnet. Er wurde zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt, die er in Berlin-Rummelsburg und in „Schwarze Pumpe“ bei Hoyerswerda verbrachte.

Während dieser nach DDR-Kriterien verhältnismäßig kurzen Haftzeit lernte er aber den „sozialistischen Strafvollzug“ in allen Höhen und Tiefen kennen. Er wurde, wie alle Häftlinge, nach „Sackratten“ (Filzläusen) untersucht, er saß wochenlang im Arrest, er wurde wegen Selbstbefriedigung „zur Abkühlung“ von der „Volkspolizei“ im Waschraum angekettet, und er nahm an illegalen Boxwettkämpfen unter den Häftlingen teil. Sein Selbstbewußtsein wuchs, nachdem er sich Achtung bei den Mitgefangenen verschafft hatte.

Am 14. August 1975 wurde er entlassen und fuhr vier Stunden vom Bahnhof „Schwarze Pumpe“ nach Ost-Berlin. Diese ersten Wochen in der eingeschränkten DDR-Freiheit, als er seinen richtigen Vater besuchte, sind höchst spannend und einfühlsam beschrieben. Der Leser freilich möchte wissen, wie dieses beschädigte Leben weiterging bis zur endgültigen Ausreise 1987.

Detlef Jablonski: Einer von tausend. Eine Berliner Geschichte. Klak-Verlag, Berlin 2021, broschiert, 294 Seiten, 16,90 Euro