© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/21 / 23. April 2021

Der Flaneur
Spazieren am Sonntag
Maria Bentz

Flanieren ist Geschichte. Oder besser: Lang, lang ist’s her. Abgeschlossene Vergangenheit. Städtisches Lustwandeln, schön angetan, um zu sehen und um gesehen zu werden natürlich. „Ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm“, tönte einst ein Kindervers. Als aufmüpfiger Jugendlicher spottete man unehrerbietig „Hut, Stock, Gesangbuch, Gebiß“ und lästerte so über Spaziergänger und über den spießigen Sonntagsstaat. 

Hübsch war er aber doch. Ganz früher fesche Herren, Damen mit berüschten Sonnenschirmchen, lachend und plaudernd, verstohlene Blicke werfend. Nicht ganz so lange her: anzuggewandete Herren mit Kleid oder Kostüm tragenden Damen am Arm, frisiert und duftend nebst hübsch ausstaffierten Kindern. Ein Greuel für heutige gendergerecht geschlechtlich unverbindlich gewandete Person*innen.

Pizzaboxen, Pappbecher und Kartonagen jeglicher Art verzieren die Umgebung.

Aber in der Innenstadt flanieren? FFP2-maskierte Menschen, schlangestehend vor den spärlichen, offenen Läden wie Dönerbude oder Eisdiele, die tapfer zwischen „Totalausverkauf“ oder bereits brettervernagelten Nachbarn ausharren. Dazwischen ein Geisterbus mit zwei Fahrgästen ohne Gesicht.

Was sich früher in Lokalen abspielte, schafft in der To-go-Zeit einen neuen Empörungstatbestand in den Grünanlagen. „Solche frechen Umweltsünder!“ tönt ein einsam wandelndes Paar. Piz­zaboxen, Pappbecher, Kartonagen jeglicher Art verzieren die Umgebung eines der wenigen Mülleimer.

Beim nächsten tummeln sich gar zahlreiche Bierflaschen, aber dies ist mittlerweile ein neuartiger Akt der Nächstenliebe: eine Pfandspende für die Flaschensammler. Früher trugen die sicher auch ihren Sonntagsstaat. Nun wahrlich nichts von Sonntagen oder städtischer Ordentlichkeit verstehen die kohlrabenschwarz gewanden Krähen, die auf der Suche nach Eßbarem genüßlich Stück für Stück aus den Papierkörben ziehen.