© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/21 / 30. April 2021

Brüssels Corona-Flatrate
Karlsruhe weist Klage gegen EU-Wiederaufbaufonds ab: Riesenlast kommt auf Deutschland zu
Reiner Osbild

Es war zwar nur ein Eilantrag, den das Bundesverfassungsgericht jüngst abgewiesen hat, doch es gibt Hoffnung, daß im Hauptverfahren der Corona-Wiederaufbaufonds kippen könnte. Die Kläger um Bernd Lucke hatten eingewendet, dieser sei der Einstieg in eine Schulden- und Haftungsunion, in eine Vereinheitlichung der Fiskalpolitik, die nicht vom Vertrag von Lissabon gedeckt seien. Der Bundestag verliere seine Budgethoheit, grundgesetzlich garantierte Normen würden unterhöhlt. Karlsruhe hingegen verneinte letzteres nach summarischer Prüfung und argumentiert – vorerst zumindest – mit den wirtschafts-, außen- und europapolitischen Verwerfungen, die ein erzwungenes Nein aus Berlin auslösen könnte. Eine Einstweilige Anordnung gegen den Fonds und eine Billigung im Hauptverfahren in circa drei Jahren wurden als schädlicher eingeschätzt als das jetzige Szenario, den Fonds erst einmal durchzuwinken. Damit haben sich die Verfassungsrichter die inhaltliche Würdigung offengehalten.

In der öffentlichen Wahrnehmung stand bisher die Finanzierung des Corona-Fonds im Vordergrund. Indes ist es den Klägern gelungen, den Blick auf zwei wesentliche Punkte im „Kleingedruckten“ zu lenken. Erstens nimmt das anfänglich vereinbarte Fondsvolumen von 750 Milliarden Euro, ausgehend vom Jahr 2018, um zwei Prozent pro Jahr zu. Damit könnten bis zum Jahre 2026 bereits 824 Milliarden Euro zur Auszahlung gelangen, folgt man einer Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung ZEW aus Mannheim.

Noch heikler wird es beim zweiten Punkt, der Tilgung. Wenn alle Stricke reißen und die Rückzahlung nicht ordnungsgemäß aus dem EU-Haushalt erfolgen kann, greift ein erhöhter Eigenbeitrag der EU-Länder. Ihre Bruttozahlungen an den gemeinsamen Haushalt würden bis 2058 von derzeit jährlich 1,4 auf 2,0 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) steigen. Diese zusätzlichen 0,6 Prozentpunkte würden einem Mehrbeitrag für Deutschland von mindestens 20 Milliarden Euro per annum entsprechen; wächst die Wirtschaft, würde dieser Betrag entsprechend zunehmen. Die EU könnte sich – selbst bei 30 Jahren wirtschaftlicher Stagnation zwischen 2028 und 2058 – zusätzliche Mittel von circa vier Billionen Euro verschaffen, wovon, nach Saldierung mit Rückflüssen aus dem Corona-Fonds, netto knapp eine Billion auf Deutschland entfiele.

Diese Zahl umreißt das Maximalrisiko für den deutschen Steuerzahler. Wenn durch Zahlungsunfähigkeit oder Austritt aus der EU potente Zahler wegfallen, würde der deutsche Tilgungsbeitrag potentiell steil ansteigen. Im schlimmsten Fall müßte Deutschland die Corona-Schulden im Alleingang abtragen.

Nun hat diese immense „Überdeckung“ der Rückzahlungsmasse, die außer vom ZEW auch durch Rating-Agenturen bestätigt wird, sicherlich einen leicht positiven Effekt: Die zu entrichtenden Zinsen für die 750 respektive 824 Milliarden Euro werden niedriger als marktüblich ausfallen. Das ist bedeutsam, weil zur Zeit die Renditen auf langlaufende öffentliche Anleihen anziehen aufgrund vermehrter Inflationserwartungen. Aus Sicht des Kapitalmarktes ist das Risiko der EU-Corona-Bonds wegen der reichlichen Tilgungsmasse gering. Da die Investoren notfalls, wegen der gesamtschuldnerischen Haftung, Deutschland alleine zur Rückzahlung heranziehen könnten und selbst das abgedeckt wäre, geben sie sich mit weniger Rendite zufrieden.

Neben dem Risiko, auf den Verbindlichkeiten aus dem gegenwärtig vereinbarten Volumen sitzenzubleiben, entstehen erhebliche negative Anreizwirkungen. Denn der beschlossene Tilgungsrahmen ist so üppig, daß er locker für Erweiterungen der Corona-Programme auf EU-Ebene ausreichen würde. Geld macht bekanntlich sinnlich; liegt eine hohe Maximaltilgung von vier Billionen Euro erst einmal im europäischen Schaufenster, ist die Versuchung groß, diese auszureizen.

Die Beschleunigung der fiskalischen Umverteilungsunion ist damit nicht von der Hand zu weisen. Umverteilung geschieht aber am gerechtesten von Reich zu Arm. Daher ist die Frage zu stellen: Ist Deutschland das dermaßen reichste Land der EU, daß es notfalls die Corona-Folgen des gesamten Kontinents stemmen müßte?

Nach vorläufigen Daten von Eurostat liegt Deutschland gemessen am realen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf an achter Stelle in der EU, also gerade noch im oberen Drittel. Stellt man auf das Nettovermögen der Bürger ab, so trübt sich das Bild erheblich ein: Der Median-Deutsche verfügt über das geringste Nettovermögen der gesamten Eurozone. Deutschland hat mit Belgien zusammen die höchste Abgabenquote, so daß wir einen „reichen“ Staat und „arme“ Bürger haben, während weite Teile Südeuropas durch einen „armen“ Staat mit „reichen“ Bürgern gekennzeichnet sind. Man muß jedoch Staat, Unternehmen und Privathaushalte in ihrer Gänze sehen. Dann zeigt sich, daß der deutsche Staat nicht deshalb reich ist, weil seine Wirtschaft so produktiv und innovativ wäre, sondern weil er seinen Bürgern so viel abknöpft.

Keinesfalls darf außer acht gelassen werden, daß bereits in der Vergangenheit massive Umverteilungen zu Lasten Deutschlands vorgenommen wurden – ein „Noch mehr“ entbehrte jeder ökonomischen Vernunft. Zudem ist ja auch Deutschland von Corona betroffen, so daß die üppige Hilfe für die Nachbarländer doppelt zu hinterfragen wäre.

Wenn der Corona-Fonds durchkommen oder gar aufgestockt würde, dann dürften ausgeglichene Haushalte oder gar Schuldentilgungen auf Jahrzehnte hin von der europäischen Tagesordnung verschwinden. Reformen werden unterbleiben, und die EU wird noch weiter zurückfallen in der Welt. Sollte Karlsruhe dem deutschen Europa-Fundamentalismus doch noch einen Riegel vorschieben, würde das Europa auf lange Sicht guttun.