© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/21 / 30. April 2021

Karlsruhe muß es wieder richten
Infektionsschutzgesetz: Gegen die Bundes-Notbremse liegen zahlreiche Verfassungsbeschwerden vor / „Tiefpunkt der föderalen Kultur“
Jürg Kürschner

Wird das Bundesverfassungsgericht die nächtliche Ausgangssperre rasch stoppen? „Es wäre gut, wenn die Richter diese Frage möglichst bald klären“, hofft Stephan Weil (SPD), Ministerpräsident von Niedersachsen. Mit ihrer Notbremse bei einer bestimmten Inzidenz habe sich die Bundesregierung für einen Automatismus entschieden – und das sei bei einer so harten Grundrechtseinschränkung nicht unproblematisch, urteilte der Jurist Weil. Zu Wochenbeginn waren 65 Eilanträge und Verfassungsbeschwerden vor dem höchsten deutschen Gericht anhängig. 

Unter den Klägern sind Bundestagsabgeordnete der Opposition, aber auch der Koalition, die Freien Wähler (FW) und mehrere Rechtsanwälte. Im Mittelpunkt der Verfahren steht die nächtliche Ausgangssperre, die im Rekordtempo vom Bundestag und Bundesrat beschlossen, vom Bundespräsidenten unterzeichnet, im Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden war und am vergangenen Freitag in Kraft getreten ist. Ohne „harte Maßnahmen wie nächtliche Ausgangssperren“ habe kein Land bisher die dritte Welle der Pandemie gebrochen“, rechtfertigte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die drastischen Grundrechtseinschränkungen. In der hitzigen Parlamentsdebatte hatte der AfD-Co-Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland den Verdacht geäußert, es werde ein freiheitsbeschränkendes Gesetz ausprobiert, von dem manche hofften, „man könne das an anderer Stelle wiederholen“, beispielsweise in der Klimapolitik.

AfD, FDP und Linke hatten die sogenannte Bundes-Notbremse abgelehnt, die Grünen waren in die Enthaltung geflüchtet, die Koalition stimmte bei zahlreichen Gegenstimmen für das Maßnahmepaket. Danach greift die Ausgangssperre, wenn in einer kreisfreien Stadt oder einem Landkreis die Sieben-Tage-Inzidenz, also die Zahl der Neuinfektionen binnen einer Woche pro 100.000 Einwohner, drei Tage über 100 steigt. Von 22 bis 24 Uhr dürfen Personen dann zwar noch spazierengehen oder joggen – allerdings nur allein. 

Von 24 bis 5 Uhr ist der Aufenthalt im öffentlichen Raum nur in wenigen Ausnahmefällen erlaubt – etwa zum Aufsuchen eines Arztes oder für den Weg zur Arbeit. Ob überhaupt in Karlsruhe geklagt werden darf, scheint strittig. Die Bundesregierung ist der Ansicht, die Kläger müßten zunächst die Verwaltungsgerichte anrufen, also durch die Instanzen prozessieren. Dagegen beanstanden die Kläger unisono eine Verkürzung des Rechtsschutzes, da betroffenen Bürgern nur die Verfassungsbeschwerde offenstehe. Der übliche Weg zu den Verwaltungsgerichten sei versperrt. Im Bundesverfassungsgericht wäre der Erste Senat unter Gerichtspräsident Stephan Harbarth zuständig, der bis zu seiner Ernennung im November 2018 als Vize-Fraktionschef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion amtierte. 

Dessen Fachkenntnisse werden parteiübergreifend anerkannt, auf beständige Kritik stießen aber seine hohen Einkünfte neben seinem Abgeordnetenmandat von bis zu 100.000 Euro monatlich. Der Versuch der fraktionslosen, früheren AfD-Abgeordneten Frauke Petry und Mario Mieruch, die Ernennung Harbarths wegen Verstoßes gegen das Abgeordnetengesetz für nichtig zu erklären, scheiterte vor dem Bundesverfassungsgericht. Verfassungsbeschwerden und Eilanträge haben keine aufschiebende Wirkung. Das Infektionsschutzgesetz mit der bundeseinheitlichen Notbremse bleibt also gültig. 

Die beiden Verfassungsbeschwerden des SPD-Bundestagsabgeordneten Florian Post und der FW kommen zu dem Ergebnis, daß die Ausgangssperre „unverhältnismäßig“ und „verfassungswidrig“ sei. So verletzten etwa die Schließungen des Einzelhandels und der Außengastronomie die Grundrechte der Bürger. Es sei möglich, „Tische für mehrere Personen aus einem Haushalt beziehungsweise auf Gruppen“ zu beschränken, die sich gemäß geltender Kontaktbeschränkungen sogar in geschlossenen Räumen treffen dürfen“, heißt es in der Klageschrift Posts, die aus der Feder des renommierten Rechtswissenschaftlers Dietrich Murswiek stammt. 

Ob in Karlsruhe geklagt werden darf, ist strittig

Der emeritierte Hochschullehrer hatte bereits andere Parteien vor Gericht vertreten, darunter die AfD. Die Koalition habe nicht begründet, daß der Lockdown zwingend notwendig und alternativlos sei. Die „schematische Lösung“ des Gesetzes verhindere eine „einzelfallbezogene Differenzierung“ etwa durch Hygienekonzepte.  Murswiek hält insbesondere die alleinige Orientierung am Inzidenzwert für grundgesetzwidrig, da dieser „durch Erhöhung der Testzahl hochgeschraubt werden (kann), ohne daß sich die Gefährlichkeit des Infektionsgeschehens ändert“.

 Der Jurist moniert zudem, die Bundesregierung habe zwar die zweite und dritte Pandemiewelle prognostiziert, „aber offensichtlich nichts getan, um die Zahl der Intensivbetten zu erhöhen“. Stattdessen habe sich deren Zahl im Zeitraum vom Juli 2020 bis Januar dieses Jahres von über 30.000 auf unter 25.000 verringert. 

Der Prozeßbevollmächtigte der FW, Niko Härting, griff einen fundamentalen Mangel des Gesetzes auf. Beschränkungen der persönlichen Freiheit seien nur „auf Grund eines (förmlichen) Gesetzes“ zulässig, zitierte er Artikel zwei des Grundgesetzes. Da das Gesetz Freiheitsbeschränkungen anordne, „ohne daß es eines Vollzugsakts der Exekutive, (etwa einer Rechtsverordnung) bedarf, sei es wegen des Fehlens eines solchen Vollzugsakts verfassungswidrig. Kläger ist der promovierte Jurist Joachim Streit, der die FW als Spitzenkandidat im März erfolgreich in den Landtag von Rheinland-Pfalz geführt hatte. 

Dagegen tritt FW-Bundeschef Hubert Aiwanger nicht als Kläger auf, wohl wegen seines Amts als Vize-Ministerpräsident Bayerns und Koalitionspartner der CSU unter Regierungschef Markus Söder. Aiwanger beließ es bei der Feststellung: „Der Bund wird übergriffig mit einer Politik, die nicht sinnhaft ist“. Härting hatte mehrfach Gastwirte in Berlin erfolgreich gegen coronabedingte Sperrstunden vertreten.

Aus der AfD-Bundestagsfraktion zieht der Abgeordnete und Rechtsanwalt Christian Wirth vor das Verfassungsgericht. Es gelte die Willkür der „sogenannten Bundesnotbremse“ zu entlarven. Das Gesetz sei gleich in mehrfacher Hinsicht verfassungswidrig, sagte Wirth der JUNGEN FREIHEIT. Neben der Einschränkung mehrerer Grundrechte – wie beispielsweise Freizügigkeit, Recht auf Ehe und Familie, Recht auf Berufsfreiheit und allgemeine Handlungsfreiheit – kritisiert der Politiker auch den Inzidenzwert-Automatismus. „Durch ihn werden tragende Säulen des Rechtsstaats fundamental verletzt, denn dieser Automatismus hebt die Teilung von vollziehender und gesetzgebender Gewalt auf“, so Wirth gegenüber der JF. Besonders unverhältnismäßig sei zudem die Ausgangssperre, denn sie schränke Grundrechte ein, ohne daß der Gesetzgeber klargemacht habe, daß dies nötig sei.  

 Die Beschwerde von FDP-Bundestagsabgeordneten stützt sich auf aktuelle Studienergebnisse, denen zufolge nächtliche Ausgangssperren die Mobilität am Tage sogar erhöhten, weshalb die Maßnahme nicht ihr Ziel erreiche. Parlamentsgeschäftsführer Marco Buschmann unterstellte dem Bundesrat „politische Tricks“, da die Länderkammer der Ausgangssperre zugestimmt habe, trotz vieler ablehnender Stellungnahmen der Ministerpräsidenten. 

So bezeichnete etwa Hessens Regierungschef Volker Bouffier (CDU) die starren Ausgangsbeschränkungen als „verfassungsrechtlich problematisch“. Von einem „Tiefpunkt in der föderalen Kultur der Bundesrepublik Deutschland“ sprach gar Sachsen-Anhalts Regierungschef Reiner Haseloff (CDU), derzeit Präsident des Bundesrats. Das Gesetz passierte trotz massiver Kritik die Länderkammer, förmlich abgestimmt wurde nicht. Die FDP wendet sich zudem gegen die Weitergeltung von Beschränkungen für vollständig Geimpfte, von denen laut Robert-Koch-Institut kaum noch Ansteckungsgefahr ausgeht. 

Auf dem Impfgipfel am vergangenen Montag hatten der Bund und die Länder entschieden, die Impfpriorisierung erst „spätestens im Juni“ aufzuheben. Vielfach erwartet worden war die Aufhebung der Grundrechtseinschränkungen für vollständig geimpfte Bürger. Die Vertagung wurde vielfach kritisiert, die Kassenärztliche Bundesvereinigung sprach von einem „Phrasengipfel“.

Bei Intensivmedizinern stießen die Verfassungsbeschwerden auf deutliche Kritik. Er frage sich, wo das Recht eines jeden Einzelnen auf körperliche Unversehrtheit und Leben bleibe, betonte Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi). Auf den Intensivstationen sei man noch lange nicht in „ruhigem Fahrwasser“. Und Probleme benannte auch die Polizei. „Eine flächendeckende Kontrolle der Ausgangssperren ist kaum möglich“, gab der Vize-Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP) Dietmar Schilff zu bedenken.