© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/21 / 30. April 2021

Manifest des gesunden Menschenverstandes
Schauspieler-Protest „Allesdichtmachen“: Debatte um die wohl wichtigste gesellschaftspolitische Leistung, die die deutsche Kulturszene seit Jahren hervorgebracht hat
Thorsten Hinz

Lange sah es so aus, als hätte die deutsche Künstlerszene sich häuslich in der Duldungsstarre eingerichtet und würde tatenlos zusehen, wie die Corona-Politik die Kulturlandschaft in eine Wüstenei verwandelt. Am Donnerstag der vorletzten Aprilwoche dann der Internet-Flashmob „Allesdichtmachen“: Kurzvideos von 53 Schauspielern, die besagte Politik und die Begleitpropaganda bis zur Groteske persiflieren, karikieren.

Herrlich, wie Nina Gummich im Zustand ätherischer Entrückung erläutert, daß Meinungsfreiheit für sie bedeute, sich frei von ihrer Meinung zu machen und die Meinungsbildung der Regierung zu überlassen. Auch sei das besser für die Karriere! Volker Bruch („Babylon Berlin“) meditiert über seine Angst, die seine nachlassende Angst in ihm auslöse, und richtet die flehentliche Bitte an die Regierung, ihm mehr Angst zu machen. 

Jan Josef Liefers spricht mit ironischen Anklängen an die Diktion der SED-Presse den Medien seinen Dank dafür aus, daß sie „mit klarer Haltung“ die Panik am Laufen halten. Hanns Zischler doziert über das allgemeine Distanzhalten und Distanzieren: „Ich distanziere mich in aller Schärfe von mir selbst.“ Und Ulrich Tukur denkt die Maßnahmen, die im verbunkerten Kanzleramt ausgeheckt werden, weiter bis zum neronischen Endeffekt: „Schließen Sie ausnahmslos jede menschliche Wirkungsstätte und jeden Handelsplatz.“ Er fügt hinzu: „Sind wir erst am Leibe und nicht nur an der Seele verhungert und allesamt mausetot, entziehen wir auch dem Virus und seiner hinterhältigen Mutantenbagage die Lebensgrundlage.“

Die Künstler haben den politisch-medialen Komplex mit bitterem Lachen bloßgestellt. Das ist für diesen gefährlich. Denn es könnte ja sein, daß die Zuschauer zu einem ähnlichen Schluß kommen wie der Bürgerrechtler Jens Reich nach dem Ende der DDR: „Was waren wir für Pfeifen, daß wir uns von solchen Pfeifen regieren ließen!“

Das alte Muster, bekannt aus dem Stalinismus

Schon in der Nacht zum Freitag setzten sich die journalistischen Rollkommandos in Marsch. „(S)o schäbig, daß es weh tut“, schäumte der Berliner Tagesspiegel. Die FAZ zeigte sich angewidert von der „aufgesagten Überheblichkeit“ der Beiträge. Die öffentlich-rechtlichen Sender waren ohnehin stets auf Kurs. Vom Hexensabbat, der im Netz losbrach, nicht zu reden. Mittlerweile hat ein gutes Drittel der Akteure die Videos zurückgezogen, hat widerrufen, um Entschuldigung gebeten. Es ist das alte Muster, bekannt aus der Inquisition, dem Stalinismus, dem McCarthyismus, aus der Kampagne gegen die DDR-Künstler, die 1976 öffentlich gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann und im weiteren Sinne gegen die Bevormundung durch die Staatspartei protestiert hatten.

Damals sagte der Chef des DDR-Fernsehens der Schauspielerin Angelica Domröse ins Gesicht, wenn sie ein, zwei Jahre keine Rollen mehr bekäme, würde kein Hahn mehr nach ihr krähen. Die Domröse – die eben 80 Jahre alt geworden ist – war für den DDR-Film das, was Jeanne Moreau und Catherine Deneuve für den französischen bedeuten. Sie ging – wie viele andere – in den Westen. Diesen Ausweg gibt es heute nicht mehr.

Auch deshalb ist Häme an die Adresse der Rückzügler unangebracht. Man liest von Morddrohungen und Weinkrämpfen, von der Bedrohung der Kinder. Der SPD-Funktionär und WDR-Rundfunkrat Garrelt Duin schürte auf Twitter den Sozialneid: „Jan Josef Liefers und Tukur verdienen sehr viel Geld bei der ARD ...“, um im zweiten Schritt ein Berufsverbot zu fordern: „Die zuständigen Gremien müssen die Zusammenarbeit (...) schnellstens beenden.“ Zwar hat er den Tweet rasch wieder gelöscht, aber der Ungeist, die Drohung bleiben im Raum. Die Schauspieler-Kollegen, die nun ihren Abscheu über die „Allesdichtmachen“-Aktion bekunden, rechnen sich im Hinterkopf bestimmt vermehrte Rollenangebote aus.

Die beteiligten Künstler gehören zum Kultur-Establishment, mithin dem linksliberalen Spektrum an. Desto heftiger soll der Vorwurf sie treffen, „Beifall von der falschen Seite“ zu bekommen. Was die falsche Seite ist und wer alles dazugehört, das zu entscheiden obliegt immer den Richtigen. So zerstört der wahnhafte „Kampf gegen Rechts“ jegliche Grundlage für offene Diskussionen.

Als einer der ersten und besonders laut hat sich Jan Böhmermann mit dem Gegenhashtag „Allenichtganzdicht“ zu Wort gemeldet. Böhmermann! Man erinnere sich an sein Schmähgedicht gegen Recep Tayyip Erdoğan und wie er panisch das Kanzleramt um Schutz anflehte, als Anhänger des türkischen Präsidenten ihm ihren Groll kundtaten. Da schrumpfte der große Satire-Zampano zum kleinen Brandstifter Joseph Koljaiczek aus der „Blechtrommel“, der sich unter dem Rock der Anna Bronski vor den Feldgendarmen versteckte. Auch jetzt lugt er listig unter „Muttis“ Rock hervor und schmeißt aus sicherer Position mit Lehm.

Analogien zum Biermann-Protest in der DDR

„Ein Durchschnittsmensch mit gewöhnlichem Verstand, abhängig von Umgebung und Gelegenheit, mutlos, solange hier die Dinge schlecht für ihn standen, und von großem Selbstbewußtsein, sobald sie sich gewendet hatten“, heißt es im „Untertan“. Einer, der sich im Angesicht unkalkulierbarer Gegner als „gegnerschaftsunfähig“ erweist und seine Mediokrität mit der „kleine(n), diabolische(n) ... Freude an der Vernichtung des Wehrlosen“ kompensiert (Arnold Gelen). Genau damit ist Böhmermann repräsentativ für den Medienbetrieb und weit darüber hinaus.

Die Aktion „Allesdichtmachen“ ist ein Notruf des gesunden Menschenverstandes und des freiheitlichen Instinktes. Möglicherweise handelt es sich um die letzte Manifestation dieser Art. Sie ist eine achtenswerte künstlerische und die wichtigste gesellschaftspolitische Leistung, die die deutsche Kulturszene seit Jahren hervorgebracht hat. Sie wird bleiben als Pendant zum Biermann-Protest 1976 in der DDR. „Eines läßt sich nicht vertreiben: Dieser Stätte Male bleiben Löwen noch im Wüstensand ...“  (Gottfried Benn) Es sind die Wüstenmäuse, die ihnen am Bart zupfen.

Foto: Volker Bruch, Jan Josef Liefers, Martin Brambach, Ulrich Tukur, Heike Makatsch (im Uhrzeigersinn): Corona-Politik und Begleitpropaganda bis zur Groteske karikiert