© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/21 / 30. April 2021

Höhenflug für die Unabhängigkeit
Parlamentswahlen in Schottland: Befürworter der Abspaltung könnten Mehrheit erreichen
Julian Schneider

Vor der Wahl des schottischen Parlaments am 6. Mai herrscht Hochspannung. Die Unabhängigkeitsbewegung will einen erwarteten Sieg der regierenden Schottischen Nationalpartei (SNP) für einen Anlauf zu einer neuen Volksabstimmung nutzen. Das Schlagwort „Indyref2“ (Zweites Unabhängigkeitsreferendum) schwebt über diesem Wahlkampf. Tatsächlich stehen die Chancen der SNP unter Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon gut. 

Die linksnationalistisch ausgerichtete Partei steht in Umfragen bei knapp 40 Prozent der Stimmen. Mit Direktmandaten könnte sie im Holyrood-Parlament knapp über die Hälfte der 129 Sitze erobern. Zusammen mit den schottischen Grünen, die ebenfalls für die Abspaltung des Fünf-Millionen-Landes vom Vereinigten Königreich sind, hätten sie eine klare Mehrheit in Edinburgh.

Unerwartet ist der frühere Ministerpräsident Alex Salmond (Alba) wieder auf die politische Bühne getreten, der nach den Anschuldigungen, junge Beamtinnen sexuell mißbraucht zu haben, eigentlich abgemeldet schien. Von den Vorwürfen wurde der verheiratete Ex-Politiker freigesprochen. Nun scheint er Rache an seiner politischen Ziehtochter Sturgeon nehmen zu wollen, auch wenn er beteuert, sein Comeback mit der Partei „Alba“ (gälisch für Schottland) ziele darauf ab, dem Unabhängigkeitslager im Holyrood eine „Supermehrheit“ zu sichern. 

Die SNP-Politikerin reagierte jedoch mit eisiger Ablehnung. Sie will die Unabhängigkeit alleine erreichen – mehr als dreihundert Jahre nach den „Acts of Union“, der gesetzlichen Grundlage von 1707, mit der Schottland und England vereint wurden. 

In London beobachten der britische Premierminister Boris Johnson (Konservative) und seine Partei den SNP-Aufschwung mit großer Sorge. Kabinettsbürominister Michael Gove, hatte intern Alarm geschlagen, daß die Einheit des Königreichs auf dem Spiel stehe. Die schottische Bewegung hatte durch den „Brexit“ Auftrieb erhalten, denn die Mehrheit der Bevölkerung des Landes lehnte diesen ab. Dann kam die Corona-Krise hinzu. Während Johnsons Regierung zeitweise überfordert wirkte, machte die SNP-Regierung um Sturgeon offenbar eine bessere Figur.

Sturgeon will notfalls vor Verfassungsgericht ziehen

Während Johnson im Norden unbeliebt ist, erlebten die SNP und das Unabhängigkeitslager einen Höhenflug. Laut neuesten Umfragen halten sich Ja und Nein zur schottischen Unabhängigkeit wieder ungefähr die Waage. 

Beim ersten Referendum im Jahr 2014 hatte eine klare Mehrheit von 55 Prozent gegen die Abspaltung votiert. Allerdings könnte die Westminster Regierung ein neues Referendum wohl blockieren. Johnson hat bereits angekündigt, keine neue Volksabstimmung zuzulassen. Die schottischen Konservativen lamentieren, jetzt da sich das Land erst von der Corona-Krise erholen müsse, sei überhaupt nicht der richtige Zeitpunkt für einen neuen Referendumsstreit. 

Douglas Ross, der Chef der Konservativen in Edinburgh, warnt: „Die SNP wird sich nicht darum scheren, was ein Tory-Premier oder eine UK-Regierung sagen – sie werden mit einem wilden, illegalen Referendum vorwärtspreschen.“ Sturgeon hat ein entsprechendes Gesetz angekündigt und ist bereit, es auf einen Streit vor dem Verfassungsgericht ankommen zu lassen. Die Tories kommen höchstens auf ein Viertel der Stimmen, die jahrzehntelang im hohen Norden dominierende Labour-Partei ist auf ein Fünftel abgerutscht. Die Stimmen der Linken werden nun weitgehend von den SNP-„Nationalisten“ abgegrast. Sie vertritt eine eher sozialdemokratische Wirtschafts- und Sozialpolitik.

 In den vergangenen Jahren hat sich die Partei dabei zunehmend in Richtung der progressiven „Woke“- und „LGBTI“-Agenda bewegt. Anhänger der Bewegung wollen, daß alte feministische Vertreter weichen. Vor kurzem mußte die „genderkritische“ lesbische SNP-Abgeordnete Joanna Cherry ihren Hut als innenpolitische Sprecherin nehmen und wurde in Westminster auf die Hinterbänke verbannt. Justizminister Humza Yousaf (SNP) hatte im vergangenen Jahr in Edinburgh ein „Anti-Haßrede-Gesetz“ durchgedrückt, wonach „feindselige Äußerungen“ gegen sexuelle Minderheiten sogar in den eigenen vier Wänden strafbar werden. Genderpolitik wird damit zur staatlichen Orthodoxie. Da half auch der vereinte Protest der Presse- und Künstlerverbände sowie von Kirchen nichts. 

Die Organisation „Free Speech Union“ kritisierte, mit dem Gesetz werde die Meinungsfreiheit in Schottland so schwer wie in keinem anderen westlichen Land eingeschränkt.Während die SNP vor allem mit sozialpolitischen Versprechen punktet, will sie auch die Stimmen der EU-Anhänger einsammeln. Sturgeon möchte Schottland wieder in die EU zurückführen. Ob das nach einer Unabhängigkeit so schnell möglich wäre, steht aber in den Sternen. 

Sicher sind nach einer Abspaltung zunächst große handelspolitische Schwierigkeiten sowie wirtschaftliche und finanzielle Verwerfungen, denn die schottischen High- und Lowlands haben bislang von milliardenschweren Transfers aus England profitiert. Ohne diese hätte Schottland ein sehr großes Haushaltsloch. Die SNP setzt dagegen eher auf eine soziale und kulturelle schottische Identität als Hauptargument.