© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/21 / 30. April 2021

Ein Land ohne Musik
Bürgerschaft: Kunst und Kultur bleiben aus dem öffentlichen Leben weitgehend verbannt
Eberhard Straub

Der junge Komponist im Vorspiel zur Oper „Ariadne auf Naxos“ von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal singt vom Enthusiasmus ergriffen: „Musik ist eine heilige Kunst, zu versammeln alle Arten von Mut wie Cherubim um einen strahlenden Thron! Und darum ist Musik die heilige unter den Künsten!“ Er spricht damit etwas aus, woran keiner in Deutschland oder Österreich 1916, zur Zeit der Uraufführung dieser Oper, je zu zweifeln wagte, wollte er sich nicht als schrecklicher Barbar zu erkennen geben.

Die Musik galt unwidersprochen als eine heilende Macht, die den Geist beflügelt, Trost gewährt, Freude bereitet und Mut macht, weil sie allein unter den Künsten die unermeßlichen Tiefen des Daseins und der Seele zu durchdringen  vermag. Die alten Griechen und Römer stifteten diesen Glauben. Ihr Gott der Musik und des Schönen, in dem sich das Gute und Wahre zu erkennen gibt, war Apollon, dem sie zugleich als Arzt und Retter bei jedem Unheil vertrauten.

Deshalb rieten Philosophen und später von ihnen beeinflußte christliche Theologen immerzu, die Bedürfnisse von Geist, Seele und Körper im Gleichgewicht zu halten, weil auf deren Zusammenspiel die umfassende Gesundheit der Bürgerschaft beruhe. Von solchen ganz unwissenschaftlichen Überlieferungen lassen sich heute unsere Gesundheitspolitiker nicht weiter beirren. Sie halten ein Zusammensein im Namen Apolls und der Musen für gefährlich und verbannen Kunst und Kultur überhaupt aus dem öffentlichen Leben. Ihre Vorstellung von Gesundheit reduziert den Menschen und Bürger auf natürliche Funktionstüchtigkeit, eine für Griechen, Römer und später für Christen grauenerregende, weil den Menschen erniedrigende Roheit. Denn die Kultur ist die Natur des Menschen, sie allein macht ihn lebensfähig, auf ihr beruht seine Freiheit und Würde. Ohne Musik verliert sich der Mut, der Lebensmut, wovon der junge Komponist singt.

Deutsche haben Musik nicht nur geschaffen und geübt. Wie die alten Griechen philosophierten sie über die  Musik und deren Macht oder dramatisierten dieses für sie unerschöpfliche Thema in Opern wie Richard Wagner mit seinen „Meistersingern“, Hans Pfitzner im „Palestrina“ oder Richard Strauss in „Capriccio“. Sie begriffen sich als das musikalische Volk schlechthin, nur vergleichbar mit den klassischen Griechen, die einen ähnlichen Kult mit der Musik getrieben hatten. Jeder Deutsche musste sich hüten, etwa als unmusikalisch aufzufallen.

Oskar A. H. Schmitz, ein sehr gebildeter und musikalischer Kulturkritiker im frühen 20. Jahrhundert, nannte 1914 in einem geistreichen Buch England „Das Land ohne Musik“, das deshalb ein sehr problematisches Land sein mußte, was jedem Deutschen sofort einleuchtete. Mittlerweile leben die Deutschen selber in einem Land ohne Musik, dazu verurteilt von ihren Regierungen und deren Behörden, die kulturelle Einrichtungen für nicht systemrelevant und deshalb für sehr entbehrlich halten.

Die Bundesrepublik Deutschland, ein relativ kleines Land, hat fast so viele Orchester und Opernhäuser wie der Rest der Welt. Nicht zuletzt, weil die vielen fürstlichen Residenzen und einige Handelsstädte ihre Ehre einst darin erblickten, nicht vorzugsweise als Wirtschaftsstandort besonders angesehen zu sein, sondern als Musensitz, der anziehend auf viele Talente wirkt. Ohne Kunst und Kultur blieben Staat und Städte leblose Konstruktionen, wie Schiller befürchtete, die als große Maschinen keine freien Bürger brauchen und sich daher mit effizienten Systemteilchen begnügen können. Deutsche haben in der Tradition solcher Ideen Kultur stets mit vergoldeten Großbuchstaben geschrieben. Darüber wurde viel gespottet. Aber was Deutschland immer noch attraktiv macht, das sind nicht Windräder, sondern die mannigfachen kulturellen Institutionen, vor allem die Fülle guter und ausgezeichneter Orchester, Konzertsäle und Opernhäuser.  

Mit dieser Besonderheit kann es unter Umständen bald vorbei sein. Während der Corona-Krisen wurde Deutschen erstmals in ihrer langen Geschichte beigebracht, daß sie Musik zu einem gelungenen Leben gar nicht brauchen. Sie fügten sich erstaunlicherweise ohne zu murren in diese bürokratische Erziehungsmaßnahme wie in so viele andere Vorschriften. Der „Barbier von Sevilla“ wurde nicht sonderlich vermißt. Den Barbier von nebenan nicht aufsuchen zu dürfen, das hält die überwältigende Mehrheit der „Menschen hier in diesem Lande“ hingegen für seelische Grausamkeit und für eine den gesellschaftlichen Frieden beunruhigende Verordnung.

Eine Kultur läßt sich leicht ruinieren und nur mit vielen Mühen erhalten oder wiederaufbauen. Aufgrund bürokratischer Fürsorglichkeit hat sich erfolgreich erproben lassen, daß Musik kein Lebensmittel und dringendes soziales Bedürfnis ist. Insofern wird es gar nicht so unwahrscheinlich sein, daß im Hinblick auf die „neue Normalität“ Zukunftsgestalter alsbald erwägen werden, den großzügig subventionierten  Musikbetrieb möglichst zu „verschlanken“, da ganz offensichtlich nicht mehr zeitgemäß.

Immerhin besteht trotz der bisherigen materiellen Sicherheit des Kultur- und Musikbetriebes eine seit langem zunehmende Unsicherheit darüber, wie sich kulturelle Institutionen und Bildungseinrichtungen überhaupt rechtfertigen lassen. Denn Bildung und Kultur sind zu sehr beliebigen Worthülsen geworden, die je nach Bedarf allerlei umhüllen können, aber gerade deswegen verdeutlichen, recht unbestimmt zu sein. Die bürgerlich-humanistische Bildung war eine vorwiegend historische, der Bildungsbürger lebte in einem weitverzweigten Kulturmuseum. Er freute sich, in der immer flüchtigen Zeit auf diese Weise Schutz und Halt zu finden an der großen Kunst, fest im Dauernden und Zeitlosen verankert. Die bürgerliche Bildung hat ihre Verbindlichkeit eingebüßt, und der Bildungsbürger als sozialer Typus ist verschwunden. 

Im bürgerlichen Zeitalter wurde das Museum zur wichtigsten Bauaufgabe. Opernhäuser und Konzertsäle glichen Palästen und Prunkräumen aus vorbürgerlicher Zeit, beziehungsreich geschmückt, um dort im festlichen Rahmen die vorbildlichen, klassischen Meister zu feiern und in den Kreis der Klassiker diejenigen aufzunehmen und zu ehren, die – in deren Spuren wandelnd – die ernste hohe Kunst lebendig erhielten. Die Zeitlosigkeit der Klassiker war freilich eine große Fiktion. Die vorbildlichen Meister standen in Zusammenhängen höfischer und kirchlich-katholischer Repräsentation oder des protestantischen Pietismus, deren Anschauungen allmählich immer unverständlicher wurden. Der Stoff der großen Opern oder Oratorien kann gar nicht mehr als bekannt vorausgesetzt werden: klassische Mythologie, die Bibel, oder Heiligenlegenden. Die ganz fremd gewordenen Stücke müssen durch Aktualisierungen späteren Generationen verständlich gemacht werden.

Solche Versuche einer überraschenden Annäherung an das Fremde und Unbekannte hängen allerdings auch mit den Erwartungen des Publikums in demokratischen Epochen zusammen. Dieses verlange, auf der Bühne, wie Alexis de Tocqueville 1840 am Beispiel der USA schilderte, „das wirre Gemisch der Lebensumstände, der Gefühle und Gedanken“ wiederzufinden, „das es vor Augen habe“.

Das modern-demokratische Individuum mit seinem unerhörten Glück und unbegreiflichen Elend, seinen Zweifeln und Leidenschaften, erlaubt es gar nicht mehr, den rein privaten Einzelfall mit „allgemeinen Zügen der Gattung“ zu vermischen, ihn also als Symptom überpersönlicher und typischer  Gegebenheiten zu behandeln. Außerdem  werden in einem Lande, „in dem die Liebe stets ohne Umwege und leicht zur Heirat führt“, aber auch ebenso umstandslos die Scheidung möglich ist, die Tragödien und Komödien aus den adelig-feudalen Epochen vollkommen unbegreiflich. Mittlerweile gilt das auch für bürgerliche Singspiele, Operetten und Trauerspiele.

Mit Aktualisierungen vermag man nicht dem  Kunst- und Kulturmuseum  zu entrinnen. Diese krampfhaften Versuche bestätigen vielmehr eklatant, wie sehr die Oper auf alte Werke angewiesen ist, weil sich neuere nicht dauerhaft im Repertoire behaupten konnten. Die immer gleichen Stücke, von Cimarosa über Mozart, Rossini,Verdi, Wagner bis zu Strauss, müssen mit ungewohnten Einfällen interessant gemacht werden. Diese neuen Ein- und Ansichten altern freilich rasch, so daß erst recht wieder weitere ungeahnte Effekte gebraucht werden, um Neugierde für das immer Gleiche in anderem Gewand zu wecken.

Damit wird nur vorübergehend von dem Umstand abgelenkt, daß die Oper eine Kunstform aus der Welt von gestern ist. Die Programme der Konzertmusik können durch alle möglichen Rückgriffe auf alte Werke aus vier Jahrhunderten abwechslungsreicher erweitert werden. Aber darüber gerät man erst recht immer tiefer hinein ins Museum bis hin zur historischen Aufführungspraxis.

Die breite historische Bildung, die auch nötig ist, um eine Symphonie Beethovens oder Bruckners zu verstehen, ist verdampft. An ihre Stelle tritt die politische Bildung, die sich mächtig vordrängt. Ein demokratisch-moralisches Bewußtsein soll die Kultur durchdringen, die nur insoweit als sie zur politischen Kultur wird, Aufmerksamkeit verdient. Alexis de Tocqueville hat recht behalten: Demokraten „wünschen, das von ihnen selbst die Rede sei, und das Bild der Gegenwart ist es, das sie fordern“.

Die herkömmliche Kultur hat sich als antiquiert erübrigt. Sie hat nichts mit der für Demokraten jeweils besten aller Welten zu tun. Für eine demokratische Musik als Element einer alles durchdringenden politischen Kultur sorgen die zahllosen Popmusiker, die sich „authentisch“ mit sich selbst und ihrer Gegenwart beschäftigen. Auf sie ist die neue Normalität unbedingt angewiesen, aber nicht auf völlig weltfremde Umstandskrämer aus gottlob längst überwundenen Epochen.