© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/21 / 30. April 2021

Eine aussterbende Geste
Sorge um ein traditionsreiches Ritual: Vernichtet die Pandemie den Handschlag?
Dietmar Mehrens

Karfreitag 2021. Ein Mann betritt eine Kirche. Nach langer Zeit ist es sein erster Auftritt in dem mehr als 200 Jahre alten Gemäuer. Vielleicht deshalb sind einen kurzen Moment lang die erschwerten Rahmenbedingungen vergessen, unter denen Gottesdienste in Pandemiezeiten abgehalten werden. Also streckt er dem Mann im Talar, der am Portal steht, reflexhaft die Hand entgegen. Doch der Pastor muß ihm den Handschlag verweigern.

Der Kirchenbesucher ist in guter Gesellschaft: Mark Rutte, der holländische Regierungschef, hatte nach Ausbruch der Seuche in seinem Land erst das Händeschütteln untersagt und dann bei einem öffentlichen Auftritt ausgerechnet einem Virologen die Hand gereicht, die der natürlich nicht auszuschlagen wagte.

Zwei kleine Szenen, und doch sagen sie so viel: Sie sagen etwas aus über Angst, die den Glauben überwunden hat, denn eigentlich glauben Christen ja an einen, der ihnen zusichert: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost: Ich habe die Welt überwunden.“

Sie sagen etwas aus über jahrhundertealte Rituale, die auf der Strecke bleiben, weil es plötzlich nicht mehr opportun ist, sie zur Anwendung zu bringen. Und sie sagen etwas aus über die Beharrungskräfte solcher Rituale.

Kulturgeste in mittelalterlicher Tradition

Sorgen darf man sich dennoch machen. Regierungen haben schon häufiger den Nachweis erbracht, daß sie den Menschen Bräuche aberziehen können, wenn es ihnen nur gelingt, die Gesellschaft genügend unter Druck zu setzen. Man denke an die von den Jakobinern in der Französischen Revolution durchgesetzte Anrede „citoyen“ oder in der jüngeren Geschichte Europas die Revision des traditionellen Ehebegriffs.

Der äthiopische Prinz Asfa-Wossen Asserate, Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers, legte 2005 ein vielbeachtetes Buch mit dem Titel „Manieren“ vor. Er, der erst als junger Mann nach Deutschland kam, hatte sich intensiv mit der europäischen Kulturgeschichte, ihren Sitten und Gebräuchen befaßt. Und man merkt seinem Buch zuweilen eine nostalgische Wehmut an, daß so vieles, das sich über Jahrhunderte bewährt hat, im Gegenwartsdeutschland zur Disposition steht. Auch über den Handschlag hat der Mann aus Afrika sich Gedanken gemacht: „Das Handgeben oder Händeschütteln ist in Deutschland üblich, im kleineren Kreis ohnehin, in größerer Runde, in der man vom Hausherrn oder Gastgeber vorgestellt wird, kann das Händeschütteln auch wegbleiben.“  

Schon bevor Asserates Buch erschien, ist dem Handschlag durch die „Akkolade“ eine gewisse Konkurrenz erwachsen. Daß die Akkolade, die flüchtige Umarmung unter Freunden, von den für ihre „Sittensprödigkeit“ (Thomas Mann) bekannten Norddeutschen als Schickeria- oder Bussi-Bussi-Kultur verspottet wurde, hat ihren Siegeszug nicht aufhalten können.

Unter Jugendlichen ist der Handschlag aus der Mode gekommen. Amerikanische Teenie-Filme sind daran vermutlich nicht ganz unschuldig. Im angelsächsischen Raum gab es schon immer gravierende Vorbehalte gegen diese einerseits als preußisch-steif, andererseits als unhygienisch diffamierbare Konvention. Und so ist es wohl kein Zufall, daß es mit Anthony Fauci, dem Chefberater des US-Präsidenten in Sachen Covid-19, ein Amerikaner war, der schon vor einem Jahr die drastische Forderung aussprach: „Wir sollten nie wieder Hände schütteln.“

Wer Probleme mit der Hygiene habe, kontert Asserate das angelsächsische Hygiene-Argument aus, der sei besser beraten, seine Gäste dazu aufzufordern, ihre Schuhe neben der Wohnungstür abzustellen, wie es in asiatischen Ländern üblich ist. Denn an Schuhsohlen sei der bakterielle Befall allemal alarmierender als an regelmäßig gewaschenen Händen.

Zurückgeführt wird die Kulturgeste auf die mittelalterliche Tradition, sich seinem Gegenüber als waffenlos und mithin friedfertig zu präsentieren: Die rechte Hand, die man seinem Gegenüber reicht, kann nicht zugleich eine Waffe halten. Das würde erklären, warum der Handschlag mit der linken Hand als Fauxpas gilt: Versucht da etwa einer eine linke Tour, hält er in seiner Rechten einen Dolch? 

Die syrischstämmige TV-Produzentin Ella Al-Shamahi, die zu dem Thema ein ganzes Buch verfaßt hat („Der Handschlag – Eine ergreifende Geschichte“), schätzt die Grußhandlung in ihrer diskriminierungsfreien westlich-aufgeklärten Ausführung. Denn anders als in der Heimat ihrer Vorfahren integriere der Handschlag; dort grenze er aus. In islamischen Kulturen gilt der Handschlag zwischen Mann und Frau als zwischengeschlechtlicher Übergriff.

Der Handschlag im Bürgerlichen Gesetzbuch

Dabei gibt es eigentlich bedeutend übergriffigere Formen der Begrüßung. In der Westschweiz ist es üblich, sich im Links-rechts-Wechsel dreimal einen Kuß auf die Wange zu hauchen – ein Alptraum für sittenspröde Norddeutsche. Für die ist ja die Akkolade schon zuviel des Guten. Auf den Handschlag kann man sich eher einlassen. Er verbindet Nähe mit Distanz: Man kann sich auf Augenhöhe begegnen und zugleich eine Armlänge voneinander entfernt stehen – wie Winnetou und Old Shatterhand. Die Begrüßung der berühmtesten Blutsbrüder der deutschen Belletristik ist gleichsam ein rituell erweiterter Handschlag und längst Gegenstand des ikonographischen Gedächtnisses der Deutschen. Gab es den Ritus also schon in archaischen Stammeskulturen? Das könnte die These Al-Shamahis stützen, die glaubt, der Handschlag reiche viel weiter zurück als nur bis ins Mittelalter, er gehöre zur DNA des Menschen.

Der größte Alptraum des Sittenspröden ist freilich der kommunistische Bruderkuß, dieser zwanghaft-neurotische Versuch, Menschen auf die intimste Weise zusammenzubringen, auch wenn sie persönlich womöglich heftigste Antipathie füreinander hegen. Das legendäre Foto von Erich Honecker und Leonid Breschnew bei der Ausführung der sozialistischen Kulthandlung ist eine Momentaufnahme für die Ewigkeit: ein für alle Zeiten gültiger Bildbeweis dafür, zu welch grotesken Unappetitlichkeiten und ästhetischen Zumutungen eine zwangsverordnete Ideologie das Individuum nötigen kann.

Dem Handschlag sind solche Zumutungen fremd. Assoziativ stellen sich bei Fotos von Politikern, die Verträge mit einem Handschlag besiegeln, die Begriffe Ehre und Anstand ein. Und auch wenn der Satz: „Gib dem Onkel mal die Hand!“ in der Kindererziehung keine große Rolle mehr spielen dürfte, steht damit immer noch hilfreiches Rüstzeug zur Verfügung, um mit dem Nachwuchs den respektvollen Umgang mit Erwachsenen einzuüben.

Daß der Handschlag sogar Eingang ins Bürgerliche Gesetzbuch gefunden hat, wissen vermutlich die wenigsten. Ein per Handschlag geschlossener Vertrag kann laut BGB genauso gültig sein wie ein schriftlicher, was in der kalt kalkulierenden und jederzeit vor Übervorteilung auf der Hut befindlichen Geschäftswelt von heute wie aus der Zeit gefallen wirkt. Die Ethik, auf die das BGB rekurriert, ist löchrig geworden wie die Nationengrenzen, seit Profitgier und globale Gewinnmaximierung um jeden Preis das Nonplusultra wirtschaftlichen Handelns geworden sind. Vielleicht ist es nur folgerichtig, wenn im Zeitalter der Viruspanik neben anderen Selbstverständlichkeiten auch das sichtbare Symbol dieser Ethik verschwindet.

Denn seine natürlichen Feinde, Viren, Bakterien, Krankheitserreger, legen den Handschlag nun lahm. Man kann nur hoffen, daß er sich davon erholt und nicht nach der Pandemie auf der Liste der vom Aussterben bedrohten Arten wiederfindet, für die kein Öko-Hippie je einen Finger rühren wird: Diener und Knicks, Aufstehen für die Dame im Bus, Gehen mit Hut und Stock und – neu auf dieser Liste (JF 13/21) – das Sie als höfliche Anrede. Auch die Zeit zeigte sich besorgt und forderte: „Rettet den Händedruck!“ Die Neue Zürcher Zeitung beklagte, daß das Coronavirus, nachdem es schon so kräftig in Bevölkerungen herumgesäbelt hat, sich nun auch noch auf die Fahnen schreiben kann, den Händedruck „zur tödlichen Bio-Waffe“ transformiert zu haben.

„Manieren sind das Parfüm, das vergessen läßt, daß wir stinken“, schreibt Asfa-Wossen Asserate. Wo aber der gesamte öffentliche Raum in Krankenhausluft getaucht ist und alles nach Sterillium riecht, braucht keiner mehr ein Parfüm.