© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/21 / 30. April 2021

CD-Kritik: Arnold Schönberg, Christian Thielemann
Murenabgänge
Jens Knorr

Nach der legendären DDR-Erstaufführung von Arnold Schönbergs „Gurre-Liedern“ nach Jens Peter Jacobsen, 1986 durch die Dresdner Philharmonie unter Herbert Kegel, war 1995 die Dresdner Staatskapelle unter Giuseppe Sinopoli das in seinen Ansprüchen monströse Werk für ein Orchester von an die 150 Musikern, drei vierstimmige Männerchöre und einen achtstimmigen gemischten Chor angegangen – mit eher durchwachsenem Ergebnis. Auch die mitgeschnittene Aufführung vom 10. März 2020 unter Christian Thielemann bringt dem Hörer, über rare kammermusikalische Momente selbstvergessenen Verweilens hinaus, wie sie nur Thielemann und die Dresdner zustande bringen, kaum neue Einsichten.

Was in der Partitur unter dem lianenhaft Wuchernden des Jugendstils polyphon auskonstruiert ist, lassen die Begleittexte im Beiheft, das doch in Zusammenarbeit mit dem Wiener Arnold-Schönberg-Zentrum erstellt wurde, ebenso im dunkeln, wie Solisten, Chöre und Orchester unter Thielemanns Dirigat. Mit dem geht nur zu oft der überwältigte Überwältiger durch. Doch die unerhörten Ausdrucksgesten der Partitur können nur freigesetzt, wenn die Prinzipien der musikalischen Konstruktion nicht von orchestralen Murenabgängen weggeschwemmt werden. Dieser eigensinnige Dirigent von pfitznerscher Größe und Kleinheit bringt es an den Tag.

Arnold Schönberg Gurrelieder Edition Günter Hänssler Profil, 2020  www.haensslerprofil.de