© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/21 / 30. April 2021

Vom Abgleiten in die Barbarei
Lebensschutz: Zur Bundestagsdebatte um eine Neuregelung der Sterbebeihilfe
Jürgen Liminski

Die Gesundheitsdiskussion hat den gesunden Menschenverstand ausgeschaltet. Jüngstes Beispiel: Die Debatte im Bundestag vergangene Woche über das Infektionsschutzgesetz und am selben Tag auch über Sterbebeihilfe. Im ersten Fall wird mit dem Lebensschutz argumentiert. Das kann man machen, bei der Gesundheit geht es im Extremfall um das Leben selbst, und mehr als 80.000 Tote in Verbindung mit Corona verleihen dem Argument eine gewisse Vitalität. Beim zweiten Fall aber soll der Lebensschutz auf einmal nicht mehr zählen, das Ende des Lebens soll beschleunigt herbeigeführt werden.

Eigentlich müßte der Lebensschutz dem ganzen Leben gelten, zeitlich unbefristet. Eigentlich. Nun sieht es indes so aus, als ob er, wie in den bekannten Zukunftsromanen von George Orwell und Aldous Huxley beschrieben, nur für den produktiven Teil der Menschen gilt. Für den Anfang und das Ende des Lebens gilt das Argument nicht mehr. Die Abtreibungsgesetze haben es schon demonstriert.

Sämtliche Vorschläge zur Neuregelung der Suizidbeihilfe laufen darauf hinaus, daß sie aktive Sterbehilfe befürworten, mal mehr, mal weniger. Vielleicht nimmt man sich an Kanada ein Beispiel, wo sogar offen über die Einsparungen von Gesundheitskosten diskutiert wird, die von einer Liberalisierung der Euthanasie zu erwarten sind. So soll die Ausdehnung des dafür in Frage kommenden Personenkreises nach einer Studie in Quebec allein für das laufende Jahr rund hundert Millionen Dollar weniger Kosten erbringen. Es dürfte nicht lange dauern, bis auch hierzulande solche Kalkulationen angestellt werden. Ist das der Preis für die Menschlichkeit? 

Gesundheit ist ein hohes Gut, es ist aber nicht das höchste Gut. Das höchste ist die Würde des Menschen, und nicht umsonst steht die Feststellung ihrer Unantastbarkeit am Anfang des Grundgesetzes. Die Befristung des Lebensschutzes aber zeigt, daß diese Würde längst angetastet ist. Die Pränatalforschung hat bereits so viel Erkenntnisse über Psyche und körperliches Befinden des neuen Lebens gewonnen, daß ihm die Personhaftigkeit nicht abgesprochen werden kann. Sie aber ist das Zuhause der Würde, nicht das wache Bewußtsein. Sonst hätte auch ein im Koma liegender Mensch, etwa ein Corona-Kranker, keine Würde.

Selbstbestimmungsrecht dramatisch überhöht

Romano Guardini hat vor gut siebzig Jahren an dieser Frage nach der Würde festgemacht, ob eine Gesellschaft „in die Barbarei gleitet“ oder nicht. Die Kirchen von heute schlagen, wie Professor Manfred Spieker in dieser Zeitung nachwies, mit der Suizidbeihilfe „ein neues Kapitel der kirchlichen Schuldgeschichte“ auf (JF 6/21). Es ist in der Tat Intellektuellen wie ihm oder auch dem französischen Schriftsteller Michel Houellebecq zu danken, daß auf den Zusammenhang von Zivilisation, Menschlichkeit und Barbarei hingewiesen wird. Im Figaro prägte Houellebecq unlängst den Satz: „Eine Zivilisation, die die Euthanasie legalisiert, verliert jeden Anspruch auf Respekt.“ 

Auch in Frankreich wird derzeit über Euthanasie diskutiert, und die Intellektuellen mischen dort kräftig mit. In Portugal hat sogar der Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa offen seine Zweifel an einem vom Parlament bereits verabschiedeten Gesetz bekundet und es ausgebremst, indem er es dem Verfassungsgericht zur Prüfung vorlegte. Ihm ist zuzutrauen, daß er das Gesetz per Veto dauerhaft blockiert, selbst wenn das oberste Gericht eine positive Beurteilung abgeben würde.

In Deutschland ist solch eine Beurteilung de facto bereits höchstrichterlich erfolgt. Mit ihrem Urteil vom 26. Februar 2020 haben die Karlsruher Richter entgegen der bisherigen Rechtsprechung das isolierte Selbstbestimmungsrecht des Menschen geradezu dramatisch überhöht und die soziale Bindung der Handlungsfreiheit des Einzelnen über Bord geworfen. Die vier Gesetzentwürfe, über die der Bundestag voraussichtlich im Mai entscheiden wird, tragen diesem zivilisatorischen Niedergang Rechnung.

Das war nicht immer so in Deutschland. Vor genau zwanzig Jahren gab es einen Bundespräsidenten Johannes Rau, Sozialdemokrat wie Rebelo de Sousa, der in einer fast prophetischen Grundsatzrede darauf hinwies, daß die Unterscheidung zwischen „lebenswert und lebensunwert“ auf eine „inakzeptable abwärtsführende Bahn ohne Halt führt“. Deshalb sprach er sich dafür aus, statt der aktiven Sterbehilfe sich mehr der Schmerztherapie zu widmen. Rau damals wörtlich: „Die aktive Sterbehilfe ist nicht die einzige mögliche Antwort auf diese verständliche Verzweiflung. Ja, wir brauchen einen anderen Umgang mit dem Sterben und dem Tod. Wir müssen wieder lernen: Es gibt viele Möglichkeiten, sterbenskranken Menschen beizustehen, sie zu trösten und ihnen zu helfen (…) Wir können und wir müssen viel mehr als bisher für die Schmerztherapie tun.“ 

In diesem Sinn äußerte sich jetzt auch der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt. Gegenüber dem Spiegel erklärte er, Patienten bräuchten die „absolute Verläßlichkeit, daß es ihrem Arzt darum geht, Leiden zu lindern (…) Aufgabe eines Arztes ist die Sterbebegleitung, nicht die Beihilfe zum Suizid“. Reinhardt hofft, daß der Ärztetag Anfang Mai über eine bundeseinheitliche Regelung entscheidet. Er selbst lehne „entschieden eine Einbindung in die organisierte Suizidhilfe ab“. 

Es gibt sie noch, die Mahnungen, die vor einem „Recht auf Suizid“ warnen. Denn mit diesem Recht geht eine fatale und definitive Aushöhlung der Würde des Menschen und ihre Herabstufung auf Kosten- und Produktionskategorien einher. Genau das ist das moderne Abgleiten in die Barbarei, in der dann nur noch das momentane Gefühl zählt und der gesunde Menschenverstand dem kollektiven Würde-Suizid geopfert wird.