© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/21 / 30. April 2021

Auf der Suche nach einer höheren Existenz
Baltendeutscher Bahnbrecher und Wegweiser: Zum 75. Todestag des Kulturphilosophen Hermann Graf Keyserling
Dirk Glaser

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg, so erinnerte sich Gottfried Benn 1941, „schlug die europäische Kunst eine Gegenkurve ein, sie regenerierte sich in den Tropen: Gauguin auf Tahiti, Nolde in Rabaul, Dauthendey in Java, Pierre Loti in Japan, Matisse in Marokko. Asien wird mythen- und sprachwissenschaftlich erschlossen: [Richard] Wilhelm widmet sich China, Lafcadio Hearn Japan, [Heinrich] Zimmer Indien“. Das sind nur wenige aus einer Heerschar prominenter Literaten, Wissenschaftler und Künstler, die sich die Parole „Europa verlassen“ zu eigen machten, um die Zivilisationsflucht nach Übersee anzutreten. 

Unter ihnen einer, der sich die Passage nicht vom Munde absparen mußte. Hermann Graf Keyserling, geboren 1880 als Sprößling eines alteingesessenen baltischen Adelsgeschlechts, konnte sich als Erbe des väterlichen Gutsbesitzes das Leben eines Privatgelehrten gönnen, der in den Intellektuellenzirkeln von Berlin, Wien und Paris mit seinem übergroßen Ego als „baltischer Herr par excellence“ paradierte. So lange, bis der selbsternannte „Condottiere“, ausgestattet mit dem „Nervengehäuse eines überempfindlichen Künstlers“, als „ Bahnbrecher, Wegweiser und Kulturpionier“ in eine Sinnkrise taumelte.

Nach dem Motto, der kürzeste Weg zu sich selbst führt einmal um die Erde herum, brach er darum 1911 zu einer einjährigen Weltreise auf, die ihn über Indien, China, Japan und die USA wieder zurück ins heimische Tuskulum, zum Gut Rayküll in der russischen Ostseeprovinz Estland führte. Dort entstand als geistige Ausbeute der Weltfahrt sein „Reisetagebuch eines Philosophen“. Es war fast druckfertig, als der Erste Weltkrieg begann.

Seine Gegenwartskritik sorgte für Furore

Da der Körper des nach eigener Einschätzung „überaktiven Tatmenschen“ zum Militärdienst im zaristischen Heer nicht taugte, ließ sich das Rayküller Idyll des Gentleman-Farmers und Schriftstellers noch einige Jahre fortsetzten. Erst im Herbst 1917, nach der bolschewistischen Oktoberrevolution, wurde es zunehmend ungemütlich. Vertrieben hat ihn schließlich nicht die Rote Armee, sondern die Regierung der aus den Trümmern des Zarenreiches erstandenen Republik Estland, die den Landbesitz der „baltischen Barone“ weitgehend enteignete.

Glück im Unglück hatte Keyserling, weil ihm das mit List gerettete Manuskript des „Reisetagebuchs“ zum Neuanfang in Deutschland verhalf. Das Werk erschien im Januar 1919 und machte, abgesehen von Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ (1918), Furore wie keine andere kulturphilosophische Gegenwartskritik.

Die Quintessenz des zweibändigen Wälzers verspricht im „stählernen Gehäuse“ (Max Weber) ihrer technisierten Arbeitswelt und im geisttötenden Materialismus gefangenen Westeuropäern und Nordamerikanern „Licht aus dem Osten“. In den Kulturen Indiens, Chinas und Japans gedeihen das „reinste Menschentum, die tiefste Metaphysik, die vollkommensten religiösen Systeme“. Davon müsse der so alltagstüchtige, aber seelisch verdurstende abendländische Europäer lernen, um eine „höhere“ oder, wie Marxisten es bezeichnen würden, „nicht entfremdete Existenz“ zu erreichen. 

Dem europäischen Bildungsbürgertum die im „Reisetagebuch“ gefundene Synthese aus westlichem Pragmatismus und östlicher Innerlichkeit als kollektive „Erlösung“ von ihrem Leiden an der Moderne zu predigen, darin sah Keyserling fortan seine Berufung. Dieser zu gehorchen erleichterte ihm die im November 1920 mit Unterstützung des Großherzogs von Hessen in Darmstadt gegründete „Schule der Weisheit“.

„Führernaturen“ für ein neues Zeitalter

In den krisengeschüttelten Anfangsjahren der Weimarer Republik, als sich „Werte“ in ihrer handgreiflichsten Form, dem Papiergeld, inflationär in Luft auflösten, hoffte Keyserling, eine beständigere Währung, eine Art geistige Rentenmark in Umlauf bringen und damit den von Spengler prophezeiten „Untergang des Abendlandes“ abwenden zu können. Aus seiner „Schule“ sollte ein neuer Menschentyp hervorgehen, allseitige gebildete „Führernaturen“, geformt nach dem Vorbild des Grafen.

In welcher Richtung sich diese Elite politisch zu betätigen hatte, darauf verweigerte Keyserling jede konkrete Auskunft. In wesentlichen Punkten schien sich die Zielvorgabe für die Darmstädter „Führer eines neuen Zeitalters“ jedoch mit den paneuropäischen Visionen eines aristokratischen Gesinnungsgenossen, des Grafen Richard N. Coudenhove-Kalergi zu decken. Um die im „Reisetagebuch“ propagierte Ost-West-Synthese institutionell abzusichern, bedurfte es für beide Adlige der Auflösung der europäischen Nationalstaaten, die ihre Souveränität an eine supranationale Institution nach Art der heutigen Brüsseler EU-Bürokratie abzutreten hätten. 

Keyserling, der schon aufgrund seiner Herkunft vom baltischen Rand Europas das „Abendland stets als Ganzes oberhalb der Nationen“ zu betrachten gelernt hatte („Spektrum Europas“, 1926), folgte Coudenhove-Kalergi allerdings nicht darin, zwecks vollständiger Abwicklung des alten Kontinents die Ersetzung seiner Völker durch eine „eurasisch-negroide Zukunftsrasse“ zu planen. Eine Idee, die sich, wie Ulrich Schacht in seinem letzten Essay (Tumult, 3/2018) warnt, bei der „neuen europäischen ‘Generation der Unbedingten’ steigenden Zuspruchs erfreut. Von deren bereits von Coudenhove rein technokratisch konzipierter „Enderlösung zum weltallgemeinen Guten durch einen inklusiven Völkervermischungsprozeß“ (Schacht) ist Keyserling indes weit entfernt. Ebensowenig soll seine ideale Elite „Europas Machtkunst im Rahmen des Erdkreises“ (Josef Strzygowski, 1941) perfektionieren, sondern das Gewicht des modernen Daseins vom materiellen zum Primat der ideellen Kultur verschieben. Also vom „Haben zum Sein“, wie es der linksliberale Sozialpsychologe Erich Fromm auf eine Kurzformel brachte, die seit den 1970ern zum Schlagwort-Arsenal der damals in ihren Anfängen steckenden, die „Grenzen des Wachstums“ beschwörenden, inzwischen hegemonialen Bewegung von Weltrettern zählt, die für „Klimaneutralität und Nachhaltigkeit“ streiten.

Die „Schule der Weisheit“ verlor an Anziehungskraft

Ungeachtet einer illustren, in Darmstadt dozierenden Schar von Intellektuellen, unter ihnen Ernst Troeltsch, Leo Baeck, Leopold Ziegler, Max Scheler, Richard Wilhelm und Carl Gustav Jung, verlor die „Schule der Weisheit“ seit Mitte der 1920er an Anziehungskraft. Was einerseits aus Keyserlings unermüdlicher Werbung für die „Paneuropa“-Idee resultierte, die in der vorherrschend revisionistisch gestimmten deutschen Öffentlichkeit als Dolchstoß in den Rücken der gegen das „Schanddiktat von Versailles“ kämpfenden nationalen Einheitsfront aufgefaßt wurde. Zumal der mit traditionell staatsfeindlicher „östlicher Weisheit“ aufgeladene föderalistische Kern der „Vereinigten Staaten Europas“ einen Mentalitätswandel inspirieren sollte, der in den Augen vieler „konservativer Revolutionäre“ den „Willen zum Reich“, zu nationaler Selbstbehauptung und Unabhängigkeit lähmen würde. 

Andererseits rührte die sinkende Resonanz her aus hausgemachten Problemen. Keyserlings „Weltanschauung“ war in einer „Schule“ gar nicht lehrbar, weil sie nicht in Theorie, Systematik und präziser Begrifflichkeit wurzelte. Ob die Übertragung aus dem „geistigen Kraftfeld“ des, wie Rudolf Steiner über ein Privattelefon zu „höheren Sphären und zum Absoluten“ verfügenden, intuitiv „schauenden“ Meisters auf die Teilnehmer der Darmstädter Kurse jemals gelang, ließ sich nicht rational kontrollieren und objektivieren. Genausowenig wie die Bedeutung vieler Botschaften, die Keyserling in einer Flut „sinnstiftender“ Bücher und Broschüren sowie in seinem Hausorgan Der Leuchter aussandte.

Das provozierte Hohn und Spott, der nirgends vernichtender ausfiel als in Kurt Tucholskys Polemik gegen den „Darmstädter Armleuchter“ (1928). Der Graf sei offenbar mit einer Grammophonnadel geimpft und treibe daher, unablässig über Gott und die Welt schwätzend, „wie ein Kork auf den Wogen des Geschmuses“. Für den Marxisten Georg Lukács trug daher auch Keyserling seinen Teil an der „Zerstörung der Vernunft“ und damit zur Machtergreifung des „Irrationalismus“ im Jahre 1933 bei.

Philippika gegen den NS-Staat

Ein etwas unfaires Urteil, das übersieht, daß Keyserling während der Agonie der Weimarer Republik mindestens so wacker wie Tucholsky gegen den Nationalsozialismus in den Ring trat. Unter anderem mit seiner Abfertigung des „Mythus des 20. Jahrhunderts“ seines baltischen Landsmann Alfred Rosenberg, für ihn eine „Mischung aus deutschem Irrationalismus und amerikanischem Revolverjournalismus“, stellte der Graf 1932 pünktlich die Weichen für die Redeverbote und Haussuchungen, mit denen man den nicht emigrierten, dank einer Ehe mit einer Enkelin Bismarcks leidlich geschützten „Weisen“ im Dritten Reich drangsalierte. Im bescheidensten Umfang publizieren durfte er jedoch noch. Unter diesen Texten ragt, um abermals Gottfried Benn zu bemühen, das „polemisch gesehen brillant“ eingeleitete „Buch vom persönlichen Leben“ (1936) heraus. Diese autobiographisch gefärbte Zeitdiagnose legt gleich eingangs den „Insektismus“ als Epochensignatur frei, die Annährung der USA und des bolschewistischen Rußland an den „Termitenstaat“. Nicht nur dem Leser Gottfried Benn war klar, daß diese Philippika gegen die zur „Konvergenz des Menschen mit der Termite führende vollkommene Massenorganisation“ ebenso scharf wie gegen die USA und die UdSSR gegen den NS-Staat zielte.

Hermann Graf Keyserling zog zu Kriegsbeginn 1939 auf das Bismarcksche Stammgut Schönhausen in der Altmark um. Seine „Schule der Weisheit“ zerstörte am 12. September 1944 der fürchterliche, 12.000 Todesopfer fordernde Angriff von US-Bombern auf Darmstadt. Auf ihre Wiederbegründung hoffte der am 26. April 1946 in einem Tiroler Notquartier verstorbene Graf bis zuletzt. 

Schule der Weisheit: c/o Institut für Praxis der Philosophie e.V. (IPPh), Literaturhaus, Kasinostr. 3,64293 Darmstadt, E-Mail: gboehme@ipph-darmstadt.de

 www.ipph-darmstadt.de

Hermann Keyserling: Das Reisetagebuch eines Philosophen. Reichl Verlag, St. Goar  2009, gebunden, 923 Seiten, 39,80 Euro