© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/21 / 30. April 2021

Eine andere Erzählung der deutschen Geschichte
Pflanzet den Freiheitsbaum
Gerd Habermann

Leider sind viele Deutsche fixiert auf die zentralistische Linie unserer Geschichte, die mit politischer Macht und Größe verbunden ist, von den mittelalterlichen Kaisern und Königen an. Es mag ja auch manchem befriedigender scheinen, einem machtvollen politischen Gebilde anzugehören, als Bürger oder Untertan eines deutschen Zwergstaates wie Reuß Jüngere Linie oder Schaumburg-Lippe zu sein, deren politische Schwäche zu Eroberung oder Erpressung herausfordert. Das meinten auch viele Liberale des 19. Jahrhunderts und haben sich so ins Schlepptau eines mephistophelisch-genialen Machtpolitikers wie Bismarck nehmen lassen.

Indessen: Der Aufstieg Preußens – eines aristokratischen Kriegerstaates – zu Macht und Herrlichkeit, seine sich zugesprochene nationale Mission hat diesen Staat wie die von ihm gewaltsam geeinigte deutsche Nation in den Abgrund geführt. Es hat diesen – mit einigem Widerstreben König Wilhelms I. – angenommenen Auftrag mit seiner Existenz bezahlen müssen und zog die ganze Nation bekanntlich mit in den Höllensturz von 1945.

Preußens Gewalt- und Machtpolitik vom 18. Jahrhundert an, ja die Verherrlichung dieser Machtpolitik als „Realpolitik“, die man zur Doktrin erhob, hat uns Deutschen kein Glück gebracht. Kann das im Ernst jemand bezweifeln? Mit der Katastrophe von 1945 schien diese Geschichtslinie und mit ihr das bis dahin tradierte Geschichtsbild erledigt, ohne daß ein anderes an seine Stelle trat. Die Deutschen aber schnitten sich mit dieser Abwendung von ihren eigenen Wurzeln ab. Sie suchten einen Ersatz für das Verlorengegangene in einer Europa-Ideologie, quasi als Reichsersatz, ja als neue Identität. Aber Europa existiert nur in seinen vielfältigen Völkern. Es gibt wohl einen europäischen Kultur- und Handelsraum, aber es gibt kein europäisches Volk, man ist Europäer nur als Franzose, Italiener, Deutscher usw.

Es ist auch kein Fortschritt, den alten Traum von Weltmacht und Imperium nun auf Europa zu übertragen, also zu zentralisieren, harmonisieren, nivellieren, homogenisieren. Diese Ambition ist geradezu antieuropäisch – und unliberal sowieso, denn Machtzusammenballung statt, sagen wir, Subsidiarität und Machtteilung war noch nie das Programm echter Liberaler, noch abgesehen davon, daß diese Ambition von den anderen Nationen Europas nicht geteilt wird und neue Ressentiments gegen diesen europäischen Musterknaben Deutschland hervorruft.

Seit 1990 gibt es nun wieder einen deutschen Kernstaat, die geographisch stark reduzierte Schöpfung Bismarcks wurde wiederhergestellt. Aber seine Bevölkerung lebt in einem gebrochenen Verhältnis zu seiner Geschichte. Sie ist historisch entwurzelt und wird so leicht zu Opfern utopischer Schwärmereien.

Indessen bietet es sich an, die deutsche Geschichte – „deutsch“ zunächst als kultureller Begriff verstanden – einmal anders zu interpretieren: als Geschichte des Wettbewerbspluralismus, der Dezentralisation und der Freiheit in vielfältigen institutionellen Ausprägungen und damit eines großen kulturellen Reichtums. Und dieses von Anfang an.

Schon die Altliberalen des 19. Jahrhunderts bewunderten die „alte deutsche Freiheit“: den germanischen Bauern mit starken Eigentumsrechten und dem Widerstandsrecht gegen eine frei gewählte politische Führung. Arminius – der nicht vollständig romanisierte Cherusker – bewahrte die äußere Freiheit einiger, mühsam koalierter germanischer Völker und verhinderte so die Ausdehnung der römischen Bürokratie bis zur Elbe. Er wurde mit erst 37 Jahren von seinen Verwandten getötet, als er die zentrale Königsherrschaft für sich anstrebte.

In spätrömischer Zeit wurden die germanischen Eroberer vielfach als „Befreier“ von einer totalitär gewordenen Bürokratie begrüßt. „Die Bürger (Roms) suchen bei den Barbaren die Menschlichkeit der Römer, weil sie bei den Römern die barbarische Unmenschlichkeit nicht ertragen können.“ So schrieb Salvian, ein christlicher Historiker jener Zeit.

Das äußerst dezentralisierte Feudalsystem war der Freiheit nicht ungünstig. Diverse Zentralisierungsanläufe mißlangen. War das nur ein Unglück? Das polyzentrale System ist der Ursprung der späteren deutschen Vielstaaterei bis hin zum heutigen Föderalismus.

In Ermangelung einer Zentralbürokratie und bei fehlender Geldwirtschaft entwickelte sich einige Jahrhunderte später zur Beherrschung großer Räume das Feudalsystem mit ökonomisch unabhängigen, sich selbst ausrüstenden Panzerreitern, eine deutsche Erfindung. Man brauchte solch eine Armee von gut trainierten Profis zur Abwehr der angreifenden Araber, Awaren, Ungarn, Wikinger. Dieses äußerst dezentralisierte politische System war der Freiheit nicht ungünstig, auch wenn es nicht auf Rechtsgleichheit beruhte. Die diversen Zentralisierungsanläufe der deutschen Kaiser und Könige wie Karl der Große oder Otto I. oder später der Salier und Staufer mißlangen: War das nur ein Unglück? Dieses polyzentrale System ist der Ursprung der späteren deutschen Vielstaaterei bis hin zum heutigen Föderalismus.

Ein besonderer Stolz der Deutschen war mit Recht die Städtekultur des Mittelalters, dreitausend Städterepubliken – freilich manchmal eher Dörfer – mit einer wehrhaften bürgerlichen Bevölkerung, von deren Selbstbewußtsein und großem Sinn bis heute die gewaltigen Kirchen, Rathäuser, Speicher, Stadtmauern und Türme zeugen. Man gehe etwa nach Lübeck, Nürnberg, Köln, Stralsund, um überlebende oder wiederhergestellte Monumente dieser großen Zeit zu bewundern.

Die vielen Städtebünde (der berühmteste die deutsche Hanse mit ihren über 200 Mitgliedern) faßten auch ohne Zentralbürokratie – genossenschaftlich – die Kräfte zusammen, und so konnten sich die freien oder Reichsstädte mehrere Jahrhunderte behaupten. Der Freiheitskampf der Bürger gegen Fürsten und Bischöfe, in Schwurbrüderschaften verbunden, ist imponierend. Es hatte eine ähnlich glänzende Stadtkultur zuletzt im antiken Griechenland gegeben.

Alpen- und Marschenbauern taten sich ebenfalls in Eidgenossenschaften zusammen – die Schweiz existiert bis heute; die „nordische Schweiz“, die Bauernrepublik Dithmarschen, unterlag 1559 der dänischen Territorialmacht. So verdient auch die Freiheitsgeschichte der Bauern eine Würdigung.

Auf der Basis von Städtebünden und Bauerngenossenschaften hätte sich leicht eine nationale Republik entwickeln können. Besonders der Bauernkrieg von 1525 mit der grausamen Niederlage der Bauern beendete diese Hoffnungen. Martin Luther spielte dabei eine dubiose Rolle. Luther hat durch seine religiöse Sezession das römische Glaubensmonopol gebrochen, aber dadurch eher indirekt die (religiöse) Freiheit gefördert, denn er selbst war eher ein religiöser Fundamentalist als ein liberaler Geist wie sein Zeitgenosse Erasmus.

Die deutsche Vielstaaterei, ein Ergebnis feudaler Machtzersplitterung, gilt manchem als originellste politische Leistung der Deutschen. Es gab am Ende des 18. Jahrhunderts etwa 1.800 selbständige politische Gebilde: die bekannten größeren Territorialstaaten wie Preußen oder Österreich standen neben Priesterstaaten (Abteien, Bistümern), den vielen Miniatur-Ritterstaaten und sogar unabhängigen Reichsdörfern wie Sulzbach oder Gochsheim, schließlich sogar „Frauenstaaten“, die reichsunmittelbaren Damenstifte wie Gernrode, Quedlinburg oder Herford.

Würde sich mancher der eigenen Geschichte entfremdete Deutsche unsere Tradition der Freiheit klarmachen, könnte er vielleicht wieder einen Patriotismus empfinden – der niemandem schadet, aber gegen Entwurzelung und Dekonstruktion schützt. 

Der Wettbewerb der vielen Machtzentren schuf Optionen für Freiheit („Stadtluft macht frei“), und ähnlich auch die Binnen- und die Ostkolonisation des Mittelalters. „Waldluft macht frei“. Nicht als Staatskolonisation wie später in Preußen, sondern als Ergebnis von Unternehmerinitiative („locatores“).

Die kleinstaatliche Welt des 18. und 19. Jahrhunderts bot viele Gelegenheiten zum ökonomischen und politischen Experimentieren – man denke an den zauberhaften „Gartenstaat“ Anhalt-Dessau – und förderte trotz noch fehlendem Freihandel die Verbreitung von Kunst, Bildung und Wissen. Zur Machtpolitik waren diese Gebilde nicht imstande, also setzten sie ihren Ehrgeiz in die Kulturförderung. Sachsen-Weimar zur Goethe­zeit ist nur das bekannteste Beispiel. Auch das vielgescholtene Preußen hat seine Freiheitstraditionen, zum Beispiel die Ansätze zum Rechtsstaat, zur Verwaltungsgerichtsbarkeit unter Friedrich dem Großen (wie sogar Friedrich August von Hayek hervorhebt), später die liberal revolutionierende Bürokratie unter dem Freiherrn vom Stein, einem Reichsritter, und dem Fürsten Hardenberg.

Der vielgeschmähte „Manchesterliberalismus“ brachte den wirtschaftlichen Aufstieg des „kleinen Mannes“ und seiner „kleinen Frau“. Überall, wo er hinkam, überwand er die Armut. Man muß hier nicht die mächtige liberale Bürgerbewegung des 19. Jahrhunderts schildern, mit der Revolution von 1848 und später mit Männern wie Ludwig Bamberger oder Eugen Richter. Zwischen 1815 und 1914 vollzog sich ein gewaltiger Aufstieg in den deutschen Landen. Die Bevölkerung verdreifachte sich, lebte länger und besser als jemals zuvor.

Auch im 20. Jahrhundert waren die Deutschen nicht jene willige Hammelherde, die man in Krieg und Untergang führen konnte. Die Widerstandsbewegung im sogenannten Dritten Reich war umfassend, vier Millionen Deutsche gingen durch die Lager. Am 20. Juli 1944 gelang beinahe ein klug ausgedachter Staatsstreich. Männer wie Stauffenberg oder Henning von Tresckow oder die Geschwister Scholl und ihre Freunde sind nicht genug zu rühmen. Dann die Tage rund um den 17. Juni 1953 mit den Hunderttausenden, die überall in der DDR auf die Straße gingen oder in den Betrieben streikten. Und schließlich die Revolution im Oktober/November 1989, diesmal mit glücklichem Ende. Auch dies war eine gewaltige Volksbewegung mit vielen Helden und Heldinnen.

Was die Deutschen geistesgeschichtlich in die Tradition der Freiheit eingebracht haben, ist ein eigenes Kapitel: nicht nur Johannes Althusius, Samuel von Pufendorf, Immanuel Kant, sondern auch die deutsche Klassik mit ihrem Persönlichkeitsideal (Goethe, Schiller, von Humboldt). „Werde, der du bist“ – nie ist schöner für das Ideal des freien, moralisch und ästhetisch kultivierten einzelnen geworben worden, besonders auch in dem berühmten Essay von Wilhelm von Humboldt „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“. Einzigartig ist auch die Fundierung der Freiheit durch die „Österreichische Schule“ der Menger, Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek und durch den Ordoliberalismus, der die institutionellen Voraussetzungen der Freiheit erarbeitete: Walter Eucken, Wilhelm Röpke („Jenseits von Angebot und Nachfrage“) und dazu das Gnadengeschenk eines Politikers wie Ludwig Erhard, der diese Freiheitsbotschaft unbeirrbar (teilweise) umsetzte.

Würde sich mancher der eigenen Geschichte entfremdete Deutsche all dies klarmachen, so könnte er vielleicht wieder zu einer freundlichen Loyalität gegenüber seiner eigenen Nation zurückfinden, einen liberal-konservativen Patriotismus empfinden, der niemandem schadet, aber gegen Entwurzelung und Dekonstruktion schützt. Es ist das „Wohlgefühl des Baumes an seinen Wurzeln“, von dem Friedrich Nietzsche einmal sprach, für das ich hier werben möchte.






Prof. Dr. Gerd Habermann, Jahrgang 1945, ist Wirtschaftsphilosoph, Hochschullehrer und freier Publizist. Seit 2003 lehrt er als Honorarprofessor an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam. Habermann initiierte die Friedrich- August-von-Hayek-Gesellschaft.

Gerd Habermann: Freiheit in Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Lau-Verlag, Reinbek 2021, gebunden, 284 Seiten, 24 Euro

Foto: Ein vielgegliederter, lebendiger Baum: Die deutsche Vielstaaterei, ein Ergebnis feudaler Machtzersplitterung, gilt manchem als originellste politische Leistung der Deutschen