© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/21 / 30. April 2021

Zum Abschuß freigegeben
DDR-Führung: Vor fünfzig Jahren wurde Walter Ulbricht durch Erich Honecker entmachtet
Thomas Schäfer

Walter Ulbricht, der spitzbärtige Sachse mit der unangenehmen Fistelstimme, welcher am 25. Juli 1950 mit dem Segen Stalins an die Spitze des Zentralkomitees (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) aufgestiegen war, gilt gemeinhin als das Musterbild eines ebenso verschlagenen wie verknöcherten Hardliners. Und tatsächlich konnte „Genosse Wu“ lügen, daß sich die Balken bogen: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“ Darüber hinaus mimte er auch den Freund der Jugend, ohne diese aber im geringsten zu verstehen: „Ist es denn wirklich so, daß wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nu kopieren müssen? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je, und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluß machen.“ 

Abstoßend wirkte zudem der Personenkult um Ulbricht, der sich als genialer Vollstrecker der Ideen von Marx, Engels und Lenin feiern ließ. Andererseits dachte der bis 1971 mächtigste Mann der DDR aber in zwei Punkten undogmatischer als mancher seiner Mitstreiter: In der Wirtschaftspolitik vertrat Ulbricht pragmatisch-technokratische Ansätze, und um seine ökonomischen Ziele zu erreichen, setzte er zugleich auf eine Annäherung an den „Klassenfeind“ in der Bundesrepublik Deutschland. Parallel hierzu bezeichnete der SED-Chef die DDR als einzigartigen Vorreiter und Musterschüler bei der Verwirklichung des Sozialismus in einem industrialisierten Land, womit er den Monopolanspruch der Kommunistischen Partei der Sowjetunion hinsichtlich der konkreten Auslegung des Marxismus-Leninismus in Frage stellte. Mit all dem erregte Ulbricht natürlich den Unwillen der Moskauer Führung unter Leonid Breschnew.

Gleichzeitig wuchs der Widerstand gegen Ulbrichts Kurs aber auch im ZK der SED, weil sich die wirtschaftlichen Probleme häuften, woran freilich in erheblichem Maße ausbleibende Rohstofflieferungen aus der Sowjetunion schuld waren. An der Spitze derer, die eine mehr dirigistische Wirtschaftspolitik und deutlichere Abgrenzung vom Westen anstrebten, stand Ulbrichts bisheriger „Kronprinz“ Erich Honecker, der die Funktion des Leiters des Sekretariats des ZK bekleidete. Daraufhin erwirkte Ulbricht am 1. Juli 1970 einen Politbürobeschluß, mit dem Honecker seines Postens enthoben wurde. Der Geschaßte wandte sich daraufhin an seinen Jagdgenossen Breschnew, welcher die Personalie umgehend rückgängig machen ließ. Trotzdem war der Bruch zwischen Honecker und Ulbricht nun vollzogen und der finale Machtkampf zwischen beiden eingeleitet.

Bereits im Sommer 1970 deutete sich ein Wechsel an

Am 28. Juli 1970 traf sich Honecker mit Breschnew, wobei dieser äußerte: „Du kannst mir glauben, Erich, die Lage, wie sie sich bei euch unerwartet entwickelt hat, hat mich tief beunruhigt. Die Dinge sind schon jetzt nicht mehr eure eigene Angelegenheit. Die DDR ist für uns, für die sozialistischen Bruderländer ein wichtiger Posten (…) Wir können uns nicht gleichgültig verhalten. Wir müssen und werden reagieren.“

Zunächst handelte dann jedoch wieder Honecker. Als Podium hierfür nutzte er die 14. Tagung des ZK der SED im Dezember 1970. Honecker machte Ulbrichts Führungsstil und Wirtschaftsreformen für die ökonomischen Probleme der DDR verantwortlich, während der SED-Chef die Vorwürfe voller Empörung zurückwies. Allerdings stand inzwischen die Mehrheit der Politbüromitglieder hinter Honecker – wohl wissend, welchen Rückhalt der in Moskau genoß. Daher lief Ulbrichts Verteidigungsstrategie ins Leere. Letztlich wurde nicht einmal seine Replik auf Honeckers Attacke veröffentlicht. Alfred Neumann, bis 1968 Minister für Materialwirtschaft von Ulbrichts Gnaden, kommentierte dies später mit den Worten: „Ich wunderte mich, daß das überhaupt ging.“

Der nächste Schritt auf dem Wege zur Entmachtung Ulbrichts war ein geheimes Schreiben an den KPdSU-Generalsekretär Breschnew vom 21. Januar 1971, das 13 der 20 Mitglieder und Kandidaten des SED-Politbüros unterzeichnet hatten. Darin hieß es, Ulbricht halte sich nicht an Parteibeschlüsse, vertrete „lebensfremde, pseudowissenschaftliche Theorien“ und gebe den Unfehlbaren. Daher solle Moskau den SED-Chef zum Rücktritt auffordern. 

Die Gelegenheit hierzu bot sich während des 24. Parteitages der KPdSU im März 1971. Wenn es für die Kremlführung noch eines Beweises bedurft hätte, daß Ulbricht tatsächlich nicht mehr tragbar war, dann lieferte ihn dessen Auftritt vor den sowjetischen Delegierten, der dem des sprichwörtlichen Elefanten im Porzellanladen entsprach. Ulbricht pries wiederum die „Erfolge“ der DDR und stellte sie als Vorbild für alle anderen sozialistischen Länder hin. Darüber hinaus erinnerte er mit arrogant erhobenem Zeigefinger an seine persönlichen Zusammentreffen mit Lenin. 

Damit war das Maß endgültig voll und Breschnew bedeutete Ulbricht in einem Gespräch am Rande des Parteitages, daß er sowohl die Unterstützung des Politbüros in Ost-Berlin als auch des Kreml verloren habe: Nun sei für ihn die Zeit gekommen, seine Memoiren zu schreiben. Angesichts dieser klaren Worte des „Großen Bruders“ brauchte Honecker wohl kaum mehr im Gefolge von Personenschützern mit Maschinenpistolen überfallartig in Ulbrichts Sommerresidenz in Groß Dölln bei Templin zu erscheinen, um den 77jährigen zur Aufgabe zu nötigen, wie der Publizist Ed Stuhler 2003 behauptete.

Ulbrichts Name verschwand aus der DDR-Öffentlichkeit

Auf jeden Fall erklärte Ulbricht auf der 16. Tagung des ZK der SED am 3. Mai 1971 „ganz überraschend“, daß gegen das „Altern kein Kraut gewachsen“ sei, weswegen er die Geschäfte des Ersten Sekretärs in jüngere Hände legen wolle. Anschließend schlug er den 58jährigen Honecker als seinen Nachfolger vor, was die einhellige Zustimmung der Anwesenden fand, wobei die formelle Bestätigung Honeckers dann auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 erfolgte. 

Damit war der Machtwechsel in der DDR vollzogen, obwohl Ulbricht immer noch als Vorsitzender des Staatsrates fungierte und das neu geschaffene Ehrenamt des „Vorsitzenden der SED“ angetragen bekam. So begann die „Damnatio memoriae“ bereits zu seinen Lebzeiten: Zuerst verschwanden die Briefmarken mit Ulbrichts Konterfei, dann hagelte es Umbenennungen von Betrieben und Einrichtungen, welche den Namen des Kaltgestellten trugen. Und als dieser schließlich am 1. August 1973 in Groß Dölln starb, war das kein Grund, die gerade laufenden X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Ost-Berlin auch nur für einen einzigen Moment des Gedenkens zu unterbrechen. Allerdings hatte die SED-Führung zumindest den Anstand, Ulbricht nach dem Ende des Propagandaereignisses ein Staatsbegräbnis zu gewähren und in der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde bestatten zu lassen.