© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/21 / 30. April 2021

Es gibt nicht mehr als Augenzeugenberichte
Mythos oder Realität: Seydlitz-Verbände kämpfen im Frühjahr 1945 auf sowjetischer Seite gegen die Wehrmacht
Erich Körner-Lakatos

Herbst 1941, Ostfront. Die zurückweichende russische Armee setzt an der Front Walter Ulbricht und andere emigrierte KPD-Funktionäre ein, die mittels Lautsprecher Wehrmachtssoldaten zur Desertion ermuntern sollen. Ulbricht mit seiner sächselnden Fistelstimme wirkt auf die Landser erheiternd. Sein Aufruf an die deutschen Arbeiter, in das Vaterland des Proletariats überzulaufen, sorgt für Lachstürme und zeitigt keinerlei Wirkung.

Nach Stalingrad sieht die Lage anders aus. Mitte Juli 1943 gründen deutsche Exil-Kommunisten – darunter Erich Weinert, Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht – das Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD), im September rufen 95 gefangengenommene Wehrmachtsoffiziere im Lager Lunjowo bei Moskau den Bund Deutscher Offiziere (BDO) ins Leben. Präsident des Bundes ist General der Artillerie Walther von Seydlitz-Kurzbach, 1944 tritt auch Feldmarschall Friedrich Paulus bei. Bald führt der BDO ein Dasein im Schatten des Nationalkomitees. Im Deutschen Reich bleibt Seydlitz’ Tun nicht unbemerkt. Mit Führerbefehl vom 22. Dezember 1943 wird der NS-Führungsoffizier, kurz NSFO, ins Leben gerufen, eine Art Wehrmachts-Politruk. Der NSFO

soll auf ausdrücklichen Wunsch Hitlers die Soldaten gegen die Propaganda des Bundes Deutscher Offiziere immunisieren.

Seydlitz-Kurzbach bittet Stalin, ein Korps aus deutschen Überläufern und Gefangenen aufstellen zu dürfen, das gegen die Wehrmacht kämpfen sollte. Doch daraus wird nichts. Stalin vertraut den „Fritzen“ nicht. Erst 1945 gibt Moskau sein Placet zu Kampfeinsätzen sogenannter Seydlitz-Truppen, obwohl es dafür bis heute keine offen zugänglichen Belege gibt und der Kampfeinsatz dieser Einheiten oft als ein Mythos gilt oder als Aktion der militärischen Abwehr der Roten Armee unter Mißbrauch des Namens

NKFD interpretiert wird. Dabei handelt es sich um Freiwillige, meist frühere KPD-Anhänger. Sie tragen deutsche Uniform, aber ohne Schulterklappen und Hoheitsadler auf der Brust, stattdessen eine schwarz-weiß-rote Armbinde mit der Aufschrift „Freies Deutschland“. Am 9. März 1945 greift eine Seydlitz-Einheit in Bataillonsstärke die Wehrmacht südlich von Kietz bei Küstrin an der Oder an. Der Angriff wird zurückgeschlagen. Im selben Monat sichtet man Seydlitz-Männer an den eingekesselten ostdeutschen Städten Königsberg und Breslau. 

„Es geschah in der Nacht vom 21. zum 22. März 1945. In der Hauptkampflinie vor der Festung Königsberg, wo weit unterlegene deutsche Streitkräfte die Schlußoffensive der Roten Armee erwarten, tauchen aus der Dunkelheit vor den Deckungslöchern der 1. Kompanie eines Volksgrenadierregiments Männer in deutschen Uniformen auf. Die einen erzählen, sie seien ein versprengter Spähtrupp, andere behaupten, sie seien Pioniere und kämen vom Minenlegen aus dem Niemandsland. Doch immer heißt es plötzlich: „Hände hoch, wir sind vom Nationalkomitee Freies Deutschland! Kommt mit!“ Einige dringen auch in den Bunker des Kompaniechefs ein. Oberleutnant Grünwald erkennt sofort, daß Widerstand sinnlos ist – die Eindringlinge sind gut bewaffnet. Ohne daß ein Schuß fiel, wurden auf einen Schlag vierzig Wehrmachtssoldaten in sowjetische Gefangenschaft entführt. Ein Husarenstück sondergleichen: Deutsche gegen Deutsche, Kameraden gegen Kameraden. Die Angreifer gehörten zu einer Kampfgruppe kriegsgefangener Antifa-Kämpfer, die von einem Leutnant Peters geführt wurde“ (Karl-Heinz-Janßen in Die Zeit vom 10. März 1989). Seydlitz-Leute sind in Königsberg zudem den Sowjets bei den Kapitulationsverhandlungen am 9. April behilflich.

Kampfeinsätze von Seydlitz-Truppen im Oderbruch

Am 18. und 19. April werden in Lietzen im Oderbruch bei Seelow Angriffe von Seydlitz-Kommandos abgewiesen. In dieser zweiten April-Hälfte – einer Zeit, als die Wehrmacht vergeblich versucht, die Reichshauptstadt zu halten – gelingt es Seydlitz-Leuten, Teile des LVI. Panzerkorps  des Generals Weidling nach Döberitz im Westen Berlins umzuleiten, damit die Russen schneller die Kapitale einnehmen können. Eine typische Methode subversiver Kampfführung. Die Nachricht, Weidling habe befohlen, westlich Berlins zu sammeln, dringt bis zu Adolf Hitler im Führerbunker. Der beschuldigt den General darauf des Verrats, aber Weidling kann die Sachlage aufklären und wird daraufhin zum Kommandanten des Verteidigungsbereiches Berlin ernannt.

Der britische Militärhistoriker Tony Le Tissier gibt für den 17. April den Bericht eines Augenzeugen wider: „Plötzlich steht wie aus dem Boden gewachsen ein fremder Feldwebel vor mir. Als er mein auf ihn gerichtetes Sturmgewehr sieht, spricht er beschwichtigend auf mich ein: ‘Mensch, das ist eine Scheiß-Stellung. In diesem Chaos habe ich jetzt auch noch die Parole vergessen …’ Ein Einschlag zwingt mich zur Deckung. Als ich wieder hochkomme, ist der Fremde wie ein Spuk verschwunden. Etwas später kommt ein Landser von der benachbarten MG-Stellung zu mir und erzählt mir ähnliches. Dann finden wir auch eine Erklärung: Seydlitz-Truppen!“ 

18. April. „Der Feldwebel stürzt mit bleichem Gesicht herein. Raustreten! Die Russen! Wir greifen nach unseren Waffen. Es gibt kein Zaudern. Es darf kein Zögern mehr geben. Von vorn kommen flüchtende Soldaten. Die Waffen sind meist weggeworfen. Dazwischen Soldaten mit schwarz-weiß-roter Armbinde und Russen. ‘Seydlitz-Truppen!’ gellt der Schrei durch die Linien. Und wir zielen und drücken ab, wie wir es gelernt haben. Immer hinein in die Leiber. Von hinten kommen Panzer, Verstärkung rückt im Laufschritt heran. Immer schießend gehen wir vor. Die Russen und die Seydlitz-Leute gehen zurück. Erst langsam, dann schneller, schließlich flüchtend.“