© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/21 / 30. April 2021

Ein Condottiere verwaltet Europa
Zum 200. Todestag Napoleon Bonapartes: Der Kaiser der Franzosen als erstes großes Opfer „des Westens“
Eberhard Straub

Für Hugo von Hofmannsthal war Kaiser Napoleon, vor zweihundert Jahren am 5. Mai 1821 gestorben, „das letzte große, europäische Phänomen“. In ihm sah er das Symbol des handelnden europäischen Individuums, bevor es im Berufsmenschen unterging. Unserem Knirpstum mit seiner Zerfahrenheit und Zerstreuung ist seitdem historische Größe, wie Jacob Burckhardt 1874 konstatierte, nahezu unzugänglich geworden und mit ihr eine Vorstellung von der unermeßlichen Einzigartigkeit des souveränen Einzelnen. Diese machte sich zuerst während der italienischen Renaissance auffällig bemerkbar. 

Napoleon stammt aus einer alten Familie, erst in der Toskana, dann bei Genua und endlich seit dem 16. Jahrhundert in Korsika ansässig. Er gehört als letzter zu der eindrucksvollen Folge energischer Abenteurer in Italien, die sich als Condottieri, als verwegene Soldaten und kühne Politiker, Herrschaft aneigneten, Staaten und Dynastien gründeten, und im umfassenden Sinne zu Wandlern ihrer Welt wurden, die sie sich ihrem Wollen unterwarfen.  

Napoleon Bonaparte, 1769 geboren, begeisterte sich, obwohl für den Dienst in der französischen Armee bestimmt, anfänglich für die korsische Unabhängigkeit und Freiheit. Der mürrische Einzelgänger, dem trotz seiner guten Ausbildung auf französischen Militärakademien Frankreich und die Franzosen ziemlich fremd geblieben waren, erkannte freilich sofort die Vorteile, die sich ihm während des allgemeinen Zusammenbruchs seit Ausbruch der Revolution 1789 boten. Er erkor sich Frankreich zu seiner Geliebten und machte rasch Karriere in dem wilden Parteihader, aus dem er sich teilnahmslos heraushielt. Der fähige Mathematiker, Topograph, Geograph und Historiker, der sich für Tatsachen interessierte und nicht für „Visionen“, verachtete Ideologen und deren unpraktischen Eifer. 1795 zum General ernannt, machte er 1796 mit seinem Feldzug in Italien ganz Europa staunen. Dem berühmten, schon legendären Offizier, wurde 1799 zugetraut, als leitender erster Konsul der Republik die Ruhe und Ordnung im weiterhin aufgeregten Staate wiederherzustellen.

Ein geborener Organisator und Verwaltungsmensch

Sein Beispiel veranschaulichte eindrucksvoll, daß es offenbar zur Natur der Demokratie gehörte, sich in einem Manne zu personifizieren. Franzosen vergaßen diesen neuen Lehrsatz nie. Sie fanden mehrmals bis hin zu Charles de Gaulle den Soldaten, der die Nation in größten Gefahren vor der vollständigen Katastrophe rettete. Napoleon war nie ein Demokrat. Er war auch kein Verteidiger der Monarchie, um deren Restauration bemüht. Was die von Projektmachern ruinierte Nation, welche Theorien verwirklichen wollten, ohne überhaupt die Wirklichkeit zu kennen, brauchte, das war seiner Ansicht nach ein Lenker, der mit der Realität vertraut alles bewegt und koordiniert, und daher nicht in Abhängigkeit gerät von der suggestiven Macht der Fiktionen. Selbstverständlich hielt er sich dazu bestimmt, die Franzosen in eine neue Ordnung zu führen und sie so zu regieren, wie sie es insgeheim wünschen. Der Korse gab sich keine Illusionen über Franzosen hin. Sie bedürfen des Ruhms und suchen unruhig die Befriedigung ihrer Eitelkeiten. Deshalb brauchen sie Geld und streben nach Reichtum. Von Freiheit verstehen sie gar nichts. Sie ist ihnen nicht wichtig,

Haben möglichst viele Aussicht, zu Ehre, Ruhm und Reichtum zu gelangen, erübrigen sich sogenannte Freiheiten als unnütze Launen. Dementsprechend schuf er das moderne Frankreich so, wie es immer noch besteht. Napoleon behauptete von sich, der geborene Verwaltungsmensch und Organisator zu sein. Er regierte, wie es bald hieß, in drei Jahren mehr als drei Könige in einem Jahrhundert. 

Es gab nichts, in das er sich nicht einmischte. Begierig auf Tatsachen, begabt mit einem außerordentlichen Gedächtnis und einer unerschöpflichen Arbeitskraft, sorgte er als Feind jeder Routine, solange der Wiederaufbau des Landes nicht abgeschlossen war, für eine schöpferische Unruhe. Müdigkeit kannte er nicht, und Bequemlichkeiten hatte er nie gesucht. So wurde er zum Schrecken der Beamten, die ihn zugleich bewunderten, je mehr er ihnen zumutete. Der bürokratische Absolutismus und Zentralismus dieses Soldatenkaisers wie aus dem späten Rom vollendete, was der königliche Wille, Gleichheit der Lebensverhältnisse zu schaffen, zögernd, weil rücksichtsvoll, seit Jahrhunderten vorbereitet hatte.

Insofern sicherte er eine Kontinuität in der französischen Geschichte, die von der Revolution radikal unterbrochen worden war. Er folgte als klassischer Geist römischen Beispielen und den Ratschlägen des völlig unromantischen Machiavelli. Napoleon war Gesetzgeber, er schuf eine effiziente Verwaltung, ein für diese notwendiges Schulsystem, er versöhnte Staat und Kirche, garantierte Bauern und Bürgern ihren fragwürdigen Besitz von enteigneten Gütern, die ehedem das Fundament kirchlicher und feudaler Vorrechte waren.

Europa gegen die britische Weltmacht abschirmen

Die Armee wurde zu einer tatsächlichen Volksarmee. Jeder konnte in ihr Karriere machen und in den neuen Militäradel aufsteigen, der zusammen mit dem alten Adel, den er aus der Emigration zurückrief, als eine neue Elite der Leistung und der Herkunft ein Reservoir für notwendige Führer und Lenker bildete. Die Militarisierung der Franzosen bedeutete auch einen Schutz vor unübersichtlichen parteipolitischen Populismen, denn sie verknüpfte jeden Franzosen mit dem Staat und brachte ihn in Verbindung mit der altadeligen Ritterlichkeit und Ehre.

Die vielen Kriege sorgten für Ruhm und boten früher ungeahnte Möglichkeiten, reich zu werden und sozialen Eitelkeiten zu frönen. Die Kriege hatten ursprünglich ein vernünftiges Ziel, nämlich Europa gegen den ökonomischen und moralischen Imperialismus der Briten zu einen. Die Ungeduld mit dem „perfiden Albion“ war ein gesamt-europäisches Phänomen. Es gelang Napoleon nicht – seit 1804 Kaiser der Franzosen – ein wahrer Römer und römischer Kaiser zu werden in einem neuen Europa als Gemeinschaft freier Staaten und Völker. Das lag nicht allein an ihm. Überall – auch in Preußen – gab es genug Staatsmänner und Offiziere, die bereit waren, zusammen mit Frankreich in einem großen Kontinentalblock sich vor „dem Westen“ zu schützen. 

Napoleon, der klassische Römer und Italiener mit einem nüchternen Wirklichkeitssinn, ist das erste große Opfer „des Westens“, einer sich allmählich unter angelsächsischem Druck bildenden ideologischen Erziehungs- und Wertegemeinschaft, die sich anmaßt, zuerst in Portugal und Spanien, im Mittelmeer und bald in der ganzen Welt im Sinne ihrer Interessen zu intervenieren. Napoleon hingegen dachte an einen europäischen Großraum mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte, also für Großbritannien und die USA. In seinem Scheitern ist schon die spätere Kapitulation vieler Europäer vor dem „Westen“   vorweggenommen.