© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/21 / 30. April 2021

Blutspur mobiler Kommandos
Fliegende Standgerichte im letzten Kriegsjahr
Oliver Busch

Ab Mitte April 1945, beinahe zu einer Zeit, als die Distanz zwischen der West- und Ostfront in der Reichshauptstadt binnen Minuten mit der S-Bahn zu bewältigen war, fällten auch dort „Fliegende Standgerichte“ massenweise Todesurteile gegen Fahnenflüchtige und andere „Wehrkraftzersetzer“. Die Hinrichtung folgte dem Urteil auf dem Fuße, zunächst durch ein Erschießungskommando, spätestens als die Rote Armee den Einschließungsring um die Stadt festgezurrt hatte, immer häufiger durch öffentliches Erhängen. An vielen Straßen und Plätzen des Zentrums hingen oder lagen Exekutierte, zumeist mit Schildern zur Abschreckung drapiert: „Verräter“, „Feigling“, „Ich habe nichts Besseres verdient“.  

Auf den im Unterschied zu seinem langjährigen Protektor, dem Reichsmarschall Hermann Göring, in der Berliner Apokalypse ausharrenden Gustaf Gründgens, dem Generalintendanten der Preußischen Staatstheater, machten weder Tieffliegerangriffe noch Artilleriefeuer einen derart verstörenden Eindruck wie diese überall zwischen Gendarmenmarkt und Alexanderplatz praktizierte „mittelalterliche Vollstreckungsart“. 

Der Bremer Kriminologe Peter Lutz Kalmbach, der als Rechtshistoriker seit Jahren intensiv zur Wehrmachtjustiz forscht, hat für seine Studie über die in den letzten Monaten der NS-Herrschaft den „Krieg nach innen“, zwecks Festigung der „Heimatfront“, führenden „Fliegenden Standgerichte“ (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 2/2021) nicht nur in reicher Zahl vorliegende Berliner Erlebnisberichte teils prominenter Zeitzeugen wie Gründgens verwertet. Überall im Reichsgebiet hinterließen die mit den letzten Flugzeugen zu ihren „Einsatzorten“ eilenden „mobilen Mordkommandos“ eine breite Blutspur. Sie zeichnete sich zuerst im Herbst 1944 ab, als im östlichen Ostpreußen deutsches Territorium zum Kampfgebiet wurde. Und wer ab März 1945 Danzig erreichen wollte, passierte keine Landstraße, ohne auf erhängte Landser zu treffen. Noch Ende April, so erinnerte sich der spätere bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß, sei ein mit Geländewagen, Waffen und Stricken ausgerüstetes SS-Standgericht im Landkreis Schongau unterwegs gewesen, um mit Soldaten, die verdächtig waren, sich von ihrer Truppe entfernt zu haben, „kurzen Prozeß“ zu machen.

Mindestens 8.000 Menschen kostete diese „unbegrenzte Legitimation zum Töten“ 1945 das Leben. Für Kalmbach ergibt sich eine „nachträgliche Tragik dieser Justizmorde“ daraus, daß fast alle Beteiligten straffrei ausgegangen seien.


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