© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/21 / 30. April 2021

Religiöse Energiewellen schwappen um den Globus
Der Religionswissenschaftler Michael Stausberg präsentiert ein schillerndes Multiversum von Heilsbringern im 20. Jahrhundert
Felix Dirsch

Eine Religionsgeschichte des letzten Jahrhunderts zu verfassen darf als literarisches Abenteuer gelten. Die Gründe für die Schwierigkeiten liegen auf der Hand: Die Grenzen dessen, was als Religion gilt und was nicht, sind fließend und nur mit Mühe zu definieren. Nicht nur Jurisprudenz und staatliche Behörden stehen daher vor großen Problemen der Einschätzung. Auch die Religionswissenschaften haben längst von einem einfachen Kriterium Abschied genommen, wenn sie dieses denn überhaupt jemals bevorzugt haben: den Transzendenzbezug unterschiedlicher Glaubens-phänomene. 

Spektrum reicht von Rudolf Steiner bis Billy Graham

Der an der norwegischen Universität Bergen lehrende Religionswissenschaftler Michael Stausberg hat nun verschiedene Strömungen vorgestellt, die man im weiteren Sinn als „religiös“ betrachten kann. Anhand von 47 Porträts verdeutlicht er die Vielfalt immanenter wie transzendenter Formen von Religion, aber auch sinnstiftender Gottlosigkeit.

Als chronologischer Einstieg einer auch in religiöser Hinsicht globalisierten Moderne bietet sich ein ausstrahlungskräftiges Ereignis an: das Weltparlament der Religionen, das 1893 im Rahmen der Weltausstellung in Chicago tagte. Viele Vertreter unterschiedlicher Glaubensmächte leiteten eine weltumspannende Kommunikation auf ihrem ureigenen Feld ein. Ein zentrales Thema der Versammlung war der Weltfrieden.

Für ältere herausragende Heilsbringer, die Stausberg beschreibt, war das wirkmächtige Treffen in den USA prägend. Dazu zählten charismatische Gestalten wie Mary Baker Eddy, die als Gründerin der „Christlichen Wissenschaft“ gilt und der „Wiederentdecker des Yoga“, Swami Vivekandanda, aber auch die prominente Vertreterin der „Theosophischen Gesellschaft“, Annie Besant. Zu den bekannten Referenten in Chicago gehörte auch der Buddhist und Theosoph Anagarika Dharmapala, der wie kein zweiter die Verbreitung von Religionssynkretismus verkörperte, ein Phänomen, das zumindest seinerzeit in Europa noch Widerspruch hervorrief.

Eine Besprechung, die die Einzeldarstellungen Stausbergs einer genauen Prüfung unterziehen wollte, würde schnell an ihre Grenzen stoßen. In Auswahl sind von den Persönlichkeiten (quer über die Kulturen) folgende zu nennen: Leo Tolstoi, Rudolf Steiner, Pierre de Coubertin, Mahatma Ghandi, Theodor Herzl, Tirumala Krishnamacharya, Carl Gustav Jung, Mao Tse-tung, L. Ron Hobbard, Hasan al-Banna, Martin L. King, Billy Graham, John Lennon, Carl Sagan, Papst Johannes Paul II., Mutter Teresa, Ruhollah M. Khomeini. Die Reihe dieser historisch und in ihrem religiösen Wirken höchst heterogenen Gestalten wird von dem engagierten Buddhisten Thich Nhat Hanh abgeschlossen.

Anhand des beschriebenen Panoramas ist unschwer zu erkennen, daß das Spektrum der Sinnstiftung weit über herkömmlich institutionalisierte Glaubensgemeinschaften hinausgeht: Literaten, wie Clive S. Lewis und J.R.R. Tolkien, Psychologen, Geschäftemacher, Filmregisseure und Musiker wie Bob Marley oder John Lennon, aber auch Sportbegeisterte und fanatische Atheisten, wie Richard Dawkins, können Leidenschaften erwecken, die man als religiös oder quasireligiös bezeichnen kann. Die Entgrenzung des Religionsbegriffs ging im 20. Jahrhundert so weit, daß sogar Massenmörder wie Mao Tse-tung, erklärter Feind überlieferter Religion, nicht auf einen eigenen Kult verzichten wollten, der sie jeweils zu einem eigentümlichen Ersatz-Messias stilisierte.

Religion ist so diversifiziert wie janusköpfig

Der Autor kommt zu einem begreiflichen Resultat seiner Forschungen.Religion ist so diversifiziert wie janusköpfig. Sie kann Frieden oder Krieg bringen, ortsgebunden oder global sein, hierarchisch wie egalitär, moralbegründend wie -auflösend wirken, Reichtum oder Armut fördern. Entsprechende Beispiele für Gegensätze sind zahllos. Am ehesten bietet sich ein Definitionsversuch Stausbergs an, der unter Religion „organisierte Strategien“ versteht, das „Unkontrollierbare durch Wort und Tat beherrschbar zu machen, das Unberechenbare planbar, das Unverfügbare steuerbar, das Absolute nahbar, das Unerreichbare greifbar“. Zu den Daseinskontingenzen muß der Einzelne sich in irgendeiner Weise verhalten – und das erweist sich notwendig als sehr unterschiedlich. Stausbergs Studie, die bald zum Standardwerk avancieren dürfte, ist ein unverzichtbarer Führer durch das Labyrinth entsprechender Ansätze. 

Michael Stausberg: Die Heilsbringer. Eine Globalgeschichte der Religionen im 20. Jahrhundert. Verlag C.H. Beck, München 2020, gebunden, 783 Seiten, 34 Euro