© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/21 / 30. April 2021

Schlaue Kleinkinder
Die Wahl zwischen Henkersmahlzeit und Leibspeise
Christoph Keller

Allein die ältere Generation in Deutschland scheint noch Elementarwissen über Bäume, Pflanzen, Pilze zu haben. Unter Jüngeren, aber auch schon in der Babyboomer-Generation dürfte der Normaltyp sein, der Birke nicht von Buche, schmackhafte Heidelbeeren nicht vom giftigen Kreuzdorn oder Pfifferlinge nicht von Fliegenpilzen unterscheiden kann. Das überrascht kaum: Aus den westdeutschen Lehrplänen wurde die Heimatkunde 1969 gestrichen. In der DDR hatte das Fach drei Jahrzehnte länger Bestand. In Konsumgesellschaften, die ihre Nahrung aus dem Supermarkt beziehen, hat solche Unkenntnis selten ernste Konsequenzen. Während der längsten Zeit der menschlichen Entwicklungsgeschichte, bis hin zum Übergang vom Wildbeuter zum Bauern mit dem Ende der mittleren Steinzeit, war das anders.

„Was aus meiner Umwelt eßbar ist, was mich umbringen kann und wie das eine vom anderen zu unterscheiden ist“, das seien doch bis dahin „zentrale Fragen für das menschliche Leben und die menschliche Evolution gewesen“. Mit diesem Argument verteidigt die Psychologin Annie Wertz vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung ihre Studien zur „naturalistischen sozialen Kognition“ gegen aufkommende Vorwürfe, nur ein entbehrliches Nischenthema zu bearbeiten (Max Planck Forschung, 4/20).

Aus evolutionsbiologischer Sicht ist es das keineswegs. Denn nicht nur in indigenen Kulturen, wie bei den von Wertz zum Vergleich herangezogenen Ureinwohnern der Fidschi-Inseln oder dem Volk der Schua in Ecuador, die in engstem Kontakt mit der Natur geblieben sind, meiden Babys und Kleinkinder ihnen fremde Pflanzen. Beobachten sie doch von früh auf in Garten und Wald Erwachsene, die nachtwandlerisch sicher ihre Wahl treffen zwischen ungenießbaren Früchten und solchen, von denen offensichtlich keine Gefahr ausgeht.

Wertz wies nach, daß Kinder westlicher Gesellschaften ähnliche Zurückhaltung gegenüber pflanzlicher Nahrung üben. Aber mit einer wesentlichen Abweichung: Sie meiden grundsätzlich alle Pflanzen. Zumindest zögerten sie im Test mit dem Zugreifen fünf Sekunden länger als bei Alltagsgegenständen. Wertz sieht darin eine „Strategie der Evolution“, denn dieses schmale Zeitfenster reiche Eltern, um dazwischenzufahren, falls ihr Nachwuchs Leibspeise mit Henkersmahlzeit verwechselt.

Kinder indigener Völker zeigen die gleiche Abwehrreaktion, jedoch nur bei giftigen, nicht bei eßbaren Früchten, die sie ohne zu zögern pflücken und verspeisen. Um zu erfahren, „wie tief in unserem Gehirn“ dieses Vermeidungsverhalten verankert ist und wie sich Lernmechanismen in evolutionären Prozessen entwickeln, dehnt Wertz ihre Forschungen derzeit auf fünf nichtmenschliche Primatenarten aus.

 www.mpib-berlin.mpg.de

Foto: Kleiner Junge betrachtet Heidelbeere: Die offenbar angeborene Scheu von Säuglingen und Kindern vor dem Essen von Wildpflanzen war eine überlebenswichtige Strategie in der menschlichen Evolutionsgeschichte