© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/21 / 30. April 2021

Der Flaneur
Momente des Glücks
Paul Leonhard

Es ist einer jener Frühlingstage, an denen offenbar ältere Damen die Reiselust packt. Jedenfalls begegnen mir auffallend mehr als an anderen Tagen. Im Zug schwatzt eine aufgetakelte Polin, jenseits der Fünfzig und blondiert, ununterbrochen auf eine ihr gegenübersitzende junge Frau ein. Auf polnisch. Im Singsang ihrer slawischen S-Laute, die das Großraumabteil füllen, werde ich so schläfrig, daß ich fast das Umsteigen verpasse.

Aber es ist dann die Dame, die mit jetzt schriller Stimme und in gebrochenem Deutsch vom Zugbegleiter wissen will, wieviel Zeit ihr denn bleibe, um den Anschlußzug zu bekommen. Sechs Minuten, entgegnet dieser. „Sechs Minuten des Glücks können wie ein ganzes Leben sein“, strahlt sie herausfordernd die mürrisch blickenden deutschen Mitreisenden an. Mich beeindruckt dieser Spruch, aber ich zeige es nicht. Schließlich will ich auch mit dem Anschlußzug weiterfahren, aber mir nicht die mitteilsame Dame aufhalsen.

Die Dame hat mich doch nicht erkannt, sondern meinte einen anderen Mann.

Am Endbahnhof angekommen, laufe ich in die Innenstadt. Vor der Post reiße ich blitzschnell die unter dem Kinn hängende Mund-Nasen-Maske bis unter die Augen. Denn aus den Augenwinkeln habe ich einen pinkfarbenen Kleinwagen erkannt, aus dem sich gerade eine in Leder gekleidete, kräftig geschminkte Dame windet. Hat sie mich erkannt oder war ich schnell genug, frage ich mich bang. Aber schon schallt es über den Platz: „Hallöchen, ach, ist das schön, Sie zu treffen. Wie geht es denn so? Sie sind ja einer der wenigen Menschen, bei denen man sich freut, ihnen zu begegnen.“

Na ja, so ein Kompliment, höre auch ich selten. Langsam drehe ich mich um, um erleichtert festzustellen: Ich bin gar nicht enttarnt. Die stadtbekannte Dame hat einen ganz anderen Mann im Visier. Ich kann entkommen, beschließe aber, trotzdem das Kompliment mit in meinen weiteren Tag zu nehmen. Denn hätte sie mich erkannt, hätte ich es garantiert bekommen. Aber so habe ich es und auch noch viel Zeit gewonnen, was ja auf neudeutsch eine klassische Win-Win-Situation ist.