© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/21 / 07. Mai 2021

Vereinsamt und vergessen
Corona: Viele Kinder und Jugendliche leiden unter den Lockdown-Maßnahmen
Ira Austenat

Das Nachrichtenportal „t-online“ wollte kürzlich in einer nichtrepräsentativen Telefonerhebung herausgefunden haben, daß Kinder die Bedingungen des Lockdowns „gut wegstecken würden“. Abgesehen davon, daß man grundsätzlich nach dem Aussagewert einer solchen Erhebung fragen darf, ließ die Meldung offen, was denn im einzelnen mit diesem „gut wegstecken“ gemeint sein könnte.

Klar ist, was damit nicht gemeint sein kann: die Tatsache, daß die Zahl der In-Obhutnahmen in Kinderkriseneinrichtungen steigt. Auch nicht damit gemeint sein kann die wachsende Zahl der versteckten Kindesmißhandlungen, die zu spät erkannt werden, weil die gefährdeten Kinder nicht mehr in Kitas oder Schulen auffallen.

Genauso fraglich dürfte sein, ob die besagte Umfrage den Alarm der Kinderpsychologen berücksichtigt hat, angesichts von bis zu 60 Prozent mehr Terminanfragen in ihren Praxen, die nicht mehr bewältigt werden können. Die „gut wegstecken“-Vermutung widerspricht auch Beobachtungen in der kinderärztlichen Praxis, wenn Kinder Sätze wie „Ich will doch nur mein Leben zurück“ (Junge, 12 Jahre) formulieren oder fünfzehnjährige Mädchen nahezu aufhören zu sprechen. 

Da ist auch die Grundschullehrerin, die erzählt, wie nach der Teilöffnung der Schule zunächst gar kein Unterricht mehr möglich gewesen sei, da manche Erstkläßler ihre soziale Kompetenz eingebüßt hatten. Aber vielleicht ist ja auch das einzige, was an diesem „Wegstecken“ für „gut“ befunden wird, die bloße Tatsache, daß es leise stattfindet und Kinder kein Wahlrecht haben. Aber wie viele Kinder leiden still? Seltsamerweise wird die Inzidenz dieser Art von Leid nicht täglich gemeldet.

Die Kanzlerin wies einst eine politische Akteurin zurecht, sie ließe sich nicht anhängen, Kinder zu quälen. Daß sich Angela Merkel leicht etwas „anhängen ließe“, würde auch niemand behaupten wollen. Indes, die Fakten wissenschaftlicher Untersuchungen sprechen eine klare Sprache: Kinder zahlen einen hohen Preis für die vorherrschende Politik.

Gerade Kinder aus bildungsfernen Familien haben im Distanzunterricht kaum eine reale Chance der Teilhabe. Auch organische Befunde, wie die Zunahme der Fehlsichtigkeit oder des Übergewichts sind belegt. Sportangebote stehen sogar unter  freiem Himmel kaum noch zur Verfügung. 

Was macht es mit der Selbstwahrnehmung von Kleinkindern, wenn sie die Oma nicht mehr besuchen dürfen, weil sie ein Infektionsrisiko darstellen? Der Hirnforscher Gerald Hüther warnt unermüdlich vor den Gefahren der kindlichen Vereinsamung. Er spricht vom „Würgegriff der Angst“, in dem sich die Kinder befinden. Er warnt vor dem „Verlust der Lebendigkeit“ des Kindes, dem langfristigen Verlust des Bedürnisses nach sozialem Kontakt, infolge der massiven Unterdrückung desselben. Ein Verlust, dessen Reversibilität keinesfalls gesichert sei. Sind die politisch Verantwortlichen derart fernab der Realitäten derer, die sie regieren wollen? Oder sind die „Experten“ eventuell Teil der Wahrnehmungsschwäche?

Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset hat vor vielen Jahren Spezialisten charakterisiert, wie es warnender kaum sein könnte: „Der Spezialist ist nicht gebildet; denn er kümmert sich um nichts, was nicht in sein Fach schlägt. Aber er ist auch nicht ungebildet; denn er ist ein Mann der Wissenschaft und weiß in seinem Weltausschnitt glänzend Bescheid. Wir werden ihn einen gelehrten Ignoranten nennen müssen, und das ist eine überaus ernste Angelegenheit; denn es besagt, daß er sich in allen Fragen, von denen er nichts versteht, mit der ganzen Anmaßung eines Mannes aufführen wird, der in seinem Spezialgebiet eine Autorität ist.“ (Aufstand der Massen, Die Barbarei des Spezialistentums)

Hierzu darf gendergerecht gern ergänzt werden: Die Aussage trifft auch auf Frauen der Wissenschaft zu. Das neue Infektionsschutzgesetz installierte nunmehr auf Basis der Spezialistenberatung einen Automatismus der Schul- und Kitaschließungen. Leider ist nun erst recht unklar, wie lange und unter welchen Bedingungen die Kinder die Schulen oder Kitas werden aufsuchen dürfen. Eine Berufsschullehrerin berichtete mir, daß sie versuche, solange die Kinder jetzt präsent wären, möglichst eine nennenswerte Zahl realer Benotungen zu gewinnen, denn „wer weiß, wie lange wir in der Schule präsent sein dürfen“. 

Kindern wird jede Strukturierung, jede Verläßlichkeit genommen. Und die Kinder leiden leise. Sie versuchen sich anzupassen, mitzukommen, durchzuhalten – denn ihre absolute Abhängigkeit von der Welt der Erwachsenen läßt ihnen gar keine andere Wahl. Diese absurde Situation als „gutes Wegstecken“ zu interpretieren ist zynisch, etwa so, als wenn man einen Ertrinkenden dafür lobt, welch wirklich große Bemühungen er unternehme, zu schwimmen.

In einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin, die Ministerpräsidenten und Abgeordneten fordert jetzt das who-is who der deutschen Kinderheilkunde und Infektionsepidemiologie in aller Deutlichkeit das Offenhalten der Schulen und Kitas im Regelbetrieb unter Hygieneschutzbedingungen. Im Gegensatz zu vielen der geltenden Coronavorschriften berufen sie sich auf wissenschaftlich belegte Risikoevaluationen. Es bleibt zu hoffen, daß ihr Schreiben eine ähnliche Wirkung hat wie der Ausruf des Kindes, welches seinem Kaiser (oder auch der Kaiserin) enthüllt, gar keine Kleidung anzuhaben.






Dr. Ira Austenat ist Fachärztin für Kinderheil-kunde, Jugendmedizin und Kinderpneumologie in Berlin.