© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/21 / 07. Mai 2021

„Eine Frage der nationalen Sicherheit“
Zwanzig Generäle a.D. haben mit einem Aufruf, die Ehre der Republik wiederherzustellen, in Frankreich für Zorn und Zustimmung gesorgt. Warum trifft die Aktion einen Nerv? Fragen an den Mitherausgeber des Magazins „Valeur Actuelles“, das den Appell veröffentlicht hat
Eva-Maria Michels

Herr d’Orcival, ist der Appell der Generäle „Pour un retour de l’honneur de nos gouvernants“ (siehe Seite 8) wirklich ein Putschaufruf ?

François d‘Orcival: Nein, absolut nicht. „Für eine Wiederherstellung der Ehre unserer Regierenden“ ist ein Aufruf von Soldaten außer Dienst. Den Aktiven untersagt ihr Soldatenstatus, ein Dokument wie dieses zu unterzeichnen. Es sind also Generäle und Offiziere, die sich zwar auf ihren militärischen Rang berufen können, nicht aber auf einen Status als Aktive der Forces armées françaises, der französischen Armee.

Mindestens 18 Aktive haben dennoch unterzeichnet. 

d‘Orcival: Ich denke aber nicht, daß es inzwischen mehr geworden sind. Die ursprünglichen zwanzig Generäle und 200 weiteren Erstunterzeichner sind auf jeden Fall alle Ruheständler, ebenso wie die weiteren 25.000, die mittlerweile unterschrieben haben, darunter fünfzig Generäle.

Warum sprechen die etablierten Medien und die Regierung dann von einem Putschversuch? 

d‘Orcival: Einige haben sogar geglaubt, daß der Aufruf deshalb am 21. April auf der Netzseite von Valeurs Actuelles veröffentlicht worden sei, weil das der Jahrestag des „Putsch d’Alger“ oder „Putsch des généraux“, also des Putsches der Generäle von Algier im Jahr 1961 ist. 

Der Staatspräsident Charles de Gaulle daran hindern sollte, Französisch-Algerien in die Unabhängigkeit zu entlassen. 

d‘Orcival: Ja. Aber das war nur ein Zufall. Tatsächlich wurde der Appell schon einige Tage vorher auf der Seite der Vereinigung place-armes.fr online gestellt. Allerdings hat der Text Gewicht, weil es ehemalige Soldaten sind, die ihn veröffentlichen. Wenn sie auf aktuelle Gefahren verweisen und ein sehr ungesundes gesellschaftliches Klima anprangern, muß man dem Beachtung schenken. Aber es ist auch klar, daß sich aktive Soldaten dem Aufruf pensionierter Soldaten nicht anschließen. Sie wollen ihre Neutralität behalten und sich nicht in eine politische Auseinandersetzung hineinziehen lassen. Denn die Armee ist von Natur aus neutral.

Wie hoch schätzen Sie die Gesamtzahl der Soldaten, die zumindest inhaltlich hinter dem Aufruf stehen?

d‘Orcival: Die Anzahl ist nebensächlich. Wenn man den Text liest, bemerkt man sofort, daß die Initiatoren durch ihre moralische Autorität die Aufmerksamkeit der Regierung auf Gefahren lenken wollen und daß sie in keiner Weise etwas planen, das strafbar wäre. Das ist sehr wichtig zu verstehen.

Teilt eine Mehrheit der aktiven Soldaten innerlich die Analyse der Ruheständler?

d‘Orcival: Ihre Frage ist berechtigt, doch die Antwort ist nicht einfach. Allerdings  gibt es mehrere Umfragen seit Veröffentlichung des Aufrufs, die zeigen, daß die Franzosen mehrheitlich sehr stark dessen Analyse unterstützen.

Aber? 

d‘Orcival: Nun, in bezug auf die allgemeine Politik im Lande stellt sich die Frage, ob es richtig war, daß die Regierung über die Armeeministerin und den Oberbefehlshaber geantwortet hat. Durch diese öffentliche Antwort haben sie dem Aufruf eine Wichtigkeit zukommen lassen, die er ohne sie nicht gehabt hätte. In der Vergangenheit gab es bereits ähnliche Aufrufe. Insbesondere während der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys gab es einen bedeutenden, aber nicht namentlich unterzeichneten Text der Gruppe Surcouf. 

Benannt nach dem Seeheld Robert Surcouf. 

d‘Orcival: Sarkozy fragte sich damals, ob er öffentlich antworten sollte. Die aktiven Generäle rieten ihm strikt ab, mit dem Hinweis, daß sich die Aufregung schon von selbst wieder legen würde – was auch geschah.

Hieß es eben nicht, der Text habe Gewicht durch „die moralische Autorität“ der Generäle, nun ist die Unprofessionalität der Regierung Macron verantwortlich dafür, daß der Fall dieses Ausmaß angenommen hat?

d‘Orcival: Betrachten wir doch einmal den Ablauf chronologisch: Der erste, der kommentierte und von Aufstand und Abspaltung gesprochen hat, war der Linksextremist Jean-Luc Mélenchon von der Partei La France Insoumise – „Unbeugsames Frankreich“. Damit hat Mélenchon dafür gesorgt, daß dieser Aufruf pensionierter Soldaten zur Sensation geworden ist. Seither interessieren sich alle für ihn und viele übernehmen Mélenchons Interpretation. Die Regierung hat das Ganze weiter befeuert, durch die Kommentare von Armeeministerin Florence Parly, denen der Oberbefehlshaber selbstverständlich folgen mußte. Dabei hätte er von sich aus nicht so gesprochen. Man spricht also jetzt darüber, weil die Regierung Position bezogen hat.

Besteht eventuell ein Zusammenhang mit dem Attentat von Rambouillet? Der Aufruf ist vergangene Woche Mittwoch bei  „Valeurs Actuelles“ erschienen, am Freitag geschah das Attentat, bei dem ein Tunesier in dem eigentlich gutbürgerlichen Pariser Vorort eine Polizeiwache angriff und eine Angestellte mit Stichen in Hals und Unterleib getötet hat, bevor er erschossen wurde. Erst danach begann man über den Appell zu sprechen. Manche vermuten, um die Unzulänglichkeit der Regierung zu maskieren.

d‘Orcival: Mélenchon sprach am Samstag als erster darüber, weil man ihm vorwarf, nicht in Paris, sondern auf Reisen in Lateinamerika gewesen zu sein. Statt auf die Vorwürfe einzugehen, kommentierte er den Aufruf der Generäle. Das ist eines seiner typischen Ablenkungsmanöver. Danach hat sich der Aufruf  wie beschrieben weiterverbreitet.

Handelt es sich vielleicht um ein abgekartetes Spiel zwischen den Linksextremisten und der linksliberalen Regierung nach dem Prinzip „Guter Bulle, böser Bulle“? Denn letztlich kommt doch beiden der angebliche Putschaufruf gelegen.

d‘Orcival: Es ist richtig und wichtig, daß Sie von einem „angeblichen Putschaufruf“ sprechen! Nun zu Ihrer Frage: Damit konnten tatsächlich beide die Aufmerksamkeit auf einen Nebenkriegsschauplatz lenken.

Beide sind in wirtschaftlichen Fragen zwar Erzfeinde, auf dem Felde der Gesellschaftspolitik de facto aber Verbündete mit ähnlichen Zielen.

d‘Orcival: Nun, sie beackern nicht die gleichen Felder. Aber ja, in einem Fall wie diesem ziehen sie tatsächlich am gleichen Strang.

Es scheinen immer mehr ehemalige Soldaten den Appell zu unterzeichnen, womit die Angelegenheit immer größere Ausmaße annimmt. Was wird nun daraus und was wird die Regierung tun?

d‘Orcival: Gar nichts. Sie kann nur warten, daß der Aufruf von selbst im Sande verläuft, indem er von anderen Schlagzeilen abgelöst wird.

Was aber wohl nicht so schnell passieren wird, wenn die Unterzeichner nun Sanktionen erfahren. Oder glauben Sie, daß die Soldaten, anders als von der Regierung angedroht, nicht bestraft werden?

d‘Orcival: Ja, denn selbst die angedrohte Strafe ist eine Pseudo-Strafe. Denn man kann Soldaten außer Dienst nicht einfach Rang und Rente entziehen. Man kann ihnen lediglich verbieten, in Uniform aus dem Haus zu gehen. Die Strafandrohungen sind eine reine Reaktion des Augenblicks – in sechs Monaten sieht die Welt ganz anders aus.

Was ist mit der Wirkung des Aufrufs selbst: Wird er in der Armee oder der Politik Spuren hinterlassen? Könnte er tatsächlich zu Veränderungen führen oder eher zu einfach mehr Regierungs-PR?

d‘Orcival: Das Bewußtsein für die Gefährdung Frankreichs, vor allem wegen des Terrorismus, wird bleiben. 44 Prozent aller Terroranschläge in Europa geschehen ja bei uns hier! Das ist ein schwerer Tribut. Wir sind zudem in einer sensiblen Situation, weil in Kürze Wahlen anstehen: Ende Juni Regional- und Départementwahlen und im nächsten Jahr Präsidentschaftswahlen mit anschließender  Wahl zur Nationalversammlung. Es liegt in der Natur von Wahlkampfzeiten, daß sie sehr lebhafte Debatten hervorrufen. Dabei wird die Sicherheit der Bürger und die Verteidigung gegen den Terrorismus im Zentrum stehen. Vor sechs Monaten wurde der Lehrer Samuel Paty enthauptet. Letzte Woche der Anschlag im Polizeikommissariat von Rambouillet. Alle diese Ereignisse beeinflussen und beunruhigen die öffentliche Meinung. 

Auch wenn in dem Appell unter anderem vom „Zerfall“ die Rede ist, „der mit dem Islamismus und den Horden in den Vorstädten zur Absonderung vieler Parzellen der Nation führt“, sprechen die Generäle doch nicht nur von ethnischen Brüchen, sondern auch von sozialen Spannungen und dem Mißbrauch der Sicherheitskräfte für politische Zwecke – insbesondere mit ihrem Hinweis im Appell auf die Gelbwesten, deren Demonstrationen, im Gegensatz zu denen von Black Lives Matter, unter anderem brutal niedergeschlagen wurden. Zudem dürften die Corona-Maßnahmen mit ihren Arbeitsverboten in naher Zukunft das wirtschaftliche Elend eines Teils der Bevölkerung noch vergrößern. Sehen Sie dort eine „zweite Front“ entstehen, neben der ethnischen in den Vorstädten?

d‘Orcival: In einem Wahljahr sind öffentliche Aussagen immer stark betont, ja manchmal gar brutal. Aber sie haben vor allem das unmittelbare Ziel, den politischen Gegner zu schlagen, also gewählt zu werden. Wenn es keine Wahlen gibt, kann die Politik Probleme aussitzen, wie wir das an den Gelbwesten gesehen haben, deren Aufstand von allein eingeschlafen ist. In einem Wahlkampfjahr dagegen gibt es nur provisorische Lösungen. 

Sie gehen also davon aus, daß die Wahlen stattfinden werden ?

d‘Orcival: Selbstverständlich.

Ich frage, weil es ja Tendenzen zu einer Art Ermächtigungsgesetz gibt und man sie unter dem Pandemie-Vorwand verschieben oder ausfallen lassen könnte.

d‘Orcival: Nein, nein, der Beweis ist, daß die Regionalwahlen stattfinden. Es ist unmöglich, daß die Präsidentschaftswahl verschoben wird, es sei denn, die Verfassung wird außer Kraft gesetzt – was aber ein totaler Bruch wäre.

Für Aufregung hat die sehr positive Reaktion Marine Le Pens auf den Aufruf gesorgt, sowie die abwehrende Antwort der Generäle auf deren Umarmungsversuch. Ist das auch nur Wahlkampfgetöse?

d‘Orcival: Das ist purer Wahlkampf – alles, was Marine Le Pen macht, ist wahlkampftaktisch motiviert. Und die Antwort der Generäle war dementsprechend: Sie können nicht akzeptieren, quasi Gefangene des Wahlkampfs von Marine Le Pen oder einer Partei zu sein.

Gelegentlich liest man, die Generäle stammten aus dem Sympathisantenkreis des Rassemblement National, also des ehemaligen Front National – insbesondere Hauptmann Jean-Pierre Fabre-Bernadac, der Initiator des Aufrufs.

d‘Orcival: Kämen die unterzeichnenden Generäle aus der Umgebung des Rassemblement National, wäre der Appell sofort wieder aus der politischen Landschaft verschwunden und sie unglaubwürdig. Sie müssen sehr darauf achten, nicht zu sehr in die Nähe des RN zu geraten. 

Sie sehen den Aufruf der Generäle also als ein Manöver im Wahlkampf – vorläufig ändern wird er aber nichts?

d‘Orcival: Ja, der Aufruf kann nicht ohne den Wahlkampf betrachtet werden. Sein Inhalt ist selbstverständlich politisch und geht über das Problem der Kriminalität hinaus. Er stellt die Frage nach der nationalen Sicherheit.

Sehen Sie mittel- bis langfristig ethnische Konflikte, einerseits insbesondere mit Indigenisten und Afrozentristen, die einen schwarzen Chauvinismus kultivieren, andererseits mit arabo-islamischen Dschihadisten als unausweichlich an?

d‘Orcival: Ich verstehe Ihre Frage, aber ich glaube nicht, daß sie sich für die Franzosen so stellt. Wir waren immer schon, aus unterschiedlichsten Gründen, überall auf der Welt an Konflikten beteiligt. Wenn man die Geschichte der Franzosen betrachtet, stellt man sich die Frage, wohin sie nicht gegangen sind, um zu kämpfen. Einer der letzten Orte, an dem das bisher noch nicht der Fall war, war Afghanistan. Doch selbst dahin sind sie inzwischen gezogen. Wir haben in der ganzen Welt gekämpft, überall in Europa und Afrika, aber auch in Amerika und Asien.   






François d‘Orcival, ist Mitherausgeber und Ex-Chefredakteur der Zeitschrift Valeurs Actuelles (siehe Seite 13), gehört der Académie des Sciences Morales et Politiques an und hat eine Kolumne im Magazin des Le Figaro. Geboren wurde der Journalist und Essayist 1942 in Aurignac in der Gascogne.   

Foto: Französische Infanteristen, Aufruhr in der Pariser Banlieue (2017): „Seit der Veröffentlichung des Appells gab es mehrere Umfragen, die zeigen, daß die Franzosen mehrheitlich dessen Analyse stark unterstützen“

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