© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/21 / 07. Mai 2021

Das Virus und die Vielfalt
Corona: Einwanderer überproportional betroffen
Peter Möller

Das Thema birgt sozialpolitischen Sprengstoff: Einwanderer sind von der Corona-Krise offenbar in besonderem Maße betroffen. Sie infizieren sich im Verhältnis zur deutschen Bevölkerung überdurchschnittlich häufig, stellen 40 bis 80 Prozent der Intensivpatienten in den Krankenhäusern – und stehen dem Impfen besonders skeptisch gegenüber.

Je mehr Zahlen und Studien zu diesem Phänomen veröffentlicht werden, desto intensiver wird über die unterschiedlichen Erklärungsversuche und Lösungsansätze diskutiert. Während die einen in erster Linie kulturelle Unterschiede für die hohe Infektionsquote verantwortlich machen, führen andere diese auf eine angeblich strukturelle Diskriminierung von Ausländern im Gesundheitswesen zurück. Die nordrhein-westfälische Integrationsstaatssekretärin Serap Güler (CDU) richtete den Blick dagegen vor allem auf sozialpolitische Aspekte: „Wir müssen das Phänomen im sozialen Kontext sehen“, verdeutlichte sie in der FAZ. In sozial schwachen Gegenden lebten mehr Menschen auf beengtem Raum. Viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte arbeiteten zudem in der Industrie oder in der Pflege, als Reinigungskraft, als Kassiererin, sie könnten sich nicht ins Homeoffice zurückziehen. „Die Einwanderungsgeschichte ist also nicht der entscheidende Faktor, vielmehr geht es vor allem um die soziale Herkunft“, sagt Güler.

Dagegen macht der Leiter des Kölner „Gesundheitszentrums für Migrantinnen und Migranten“, Musa Deli, die Gründe für die hohe Migrantenquote unter den Corona-Patienten vor allem im Gesundheitswesen und in den Behörden aus. Das deutsche Gesundheitssystem sei zwar nicht rassistisch, aber unsensibel gegenüber den Anforderungen einer multikulturellen Gesellschaft. „Es gibt Zugangsbarrieren zum Gesundheitssystem, an denen Migranten scheitern. Corona macht das jetzt deutlicher denn je: Das System muß sich endlich interkulturell öffnen“, sagte er der Süddeutschen Zeitung und fordert mehr Beratung in den Muttersprachen der Patienten. „Ja, es gibt Flyer auf türkisch oder arabisch zu Corona. Aber die nennen meist nur die Verbote, die erklären kaum den Sinn dieser Corona-Regeln.“ Er habe den Eindruck, deutsche Politiker erwarteten von den Migranten, daß sie sich irgendwo selbst die Informationen suchen, beispielsweise von Fernsehsendern ihrer Heimat. „Nur, was nützt es einem Türken in Köln, wenn er die Regeln in Istanbul kennt?“

Doch auch Deli macht kulturelle Prägungen für die hohen Corona-Zahlen unter Einwanderern verantwortlich. „Es ist normaler, zu fünft oder zu sechst als Großeltern, Eltern und Kinder in einer Drei-Zimmer-Wohnung zu leben. Das erhöht jetzt das Risiko, daß sich die Großeltern anstecken“, sagt er. Aber auch Hochzeitsfeiern seien ein Faktor. Unter Muslimen sei es Pflicht, eine Hochzeit im großen Rahmen, mit vielen Verwandten und Freunden zu feiern. „Wer das nicht tut, blamiert sich“, verdeutlicht Deli.

Doch nicht nur die Zahl der Corona-Infektionen, sondern auch die Impfbereitschaft von Ausländern bereitet Experten zunehmend Sorge. Zwar gibt es keine offiziellen Zahlen zu Impfungen von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, doch mehren sich Berichte, die von einer verbreiteten Impfskepsis in dieser Bevölkerungsgruppe sprechen.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) habe das Thema in der vergangenen Woche im CDU-Präsidium angesprochen, berichtet die Bild-Zeitung. Seine Einschätzung: „Es ist eine große Herausforderung, bei Migranten für die Impfung zu werben.“ Auch die Staatssekretärin für Integration, Annette Widmann-Mauz (CDU), habe in der Sitzung Probleme eingeräumt, Ausländer beim Thema Corona zu erreichen. 

Mehr Aufklärung in der Muttersprache gefordert 

Unterdessen verwies Bayerns Innenminister Joachim Herrmann auf Verschwörungstheorien, die bei Migranten und Flüchtlingen in Umlauf seien: „Diese sind grober Unfug und schüren lediglich unberechtigt Ängste“, sagte Herrmann laut Bayerischem Rundfunk. Es gebe weder Belege für die Behauptung, daß die Impfungen zur Unfruchtbarkeit führen, noch habe eine Impfung Auswirkungen auf den Aufenthaltsstatus. Die zugelassenen Impfstoffe seien zudem sicher und wirksam. Herrmann rief Ausländer-, Migrations- und Integrationsbeiräte sowie Migrantenorganisationen auf, die Menschen ausführlich zu beraten und zu informieren.

Wie brisant das Thema ist, zeigte die Kritik, die Herrmann für seinen Impfappell kassierte. „Statt schlauer Ratschläge ist ein Programm für sozial Benachteiligte überfällig, egal ob Asylbewerber oder prekär Beschäftigte mit schlechten Arbeitsbedingungen“, sagte der Vorsitzende der bayerischen SPD, Florian von Brunn. Er kritisierte, daß die Webseiten des Impfzentrums Bayern nur auf deutsch verfügbar seien. Notwendig sei viel mehr „niederschwellige zielgruppengerechte Aufklärung“ in der Muttersprache, etwa über Social Media.

Unterdessen haben Anfang der Woche mehrere Kommunen damit begonnen, verstärkt in Stadtteilen, die als soziale Brennpunkte gelten und einen hohen Ausländeranteil aufweisen, mit mobilen Impfteams zu impfen. In Köln startete am Montag ein entsprechendes bundesweites Pilotprojekt. „In einigen Kölner Stadtteilen liegt die Inzidenz bei 600 und höher“, sagte Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos). „Unser Ziel ist es, möglichst kurzfristig eine hohe Impfquote in allen vulnerablen Sozialräumen zu erzielen.“