© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/21 / 07. Mai 2021

Am Limit
Psychische Störungen bei Kindern durch die Corona-Quarantäne: Eltern und Lehrer erzählen
Martina Meckelein

Die Umstände, unter denen wir alle seit einem Jahr leben, sind bedrückend. Angst vor einer Erkrankung, Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, monatelanges Eingesperrtsein – all das staut sich zu einem enormen psychischen Druck auf. Besonders betroffen scheinen Kinder und Jugendliche. „Wir gehen davon aus, daß etwa ein Drittel der Kinder auf diesen Streß mit negativen Verhaltensänderungen reagiert“, sagt Silvia Schneider, Professorin für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum, in einem Interview. Schneider forscht zur psychischen Situation von Kindern und Jugendlichen in Corona-Zeiten. Die Forscherin schränkt allerdings ein: „Wiederum andere Kinder sind psychisch erstaunlich gesund und managen die Belastung zusammen mit ihren Eltern gut.“ Ist also gesundes Elternhaus gleich gesundes Kind? Nein, diese Gleichung geht nicht auf. Die JUNGE FREIHEIT läßt Eltern und Lehrer zu Wort kommen: Wie erleben sie die Kinder in der Pandemie?

„Meine Tochter wird definitiv die zweite Klasse wiederholen“, platzt es aus einer Mutter (42) gegenüber der JF heraus. Die Brandenburgerin arbeitet als Altenpflegerin in einer Demenz-Wohngemeinschaft. „Ich habe einen stressigen Job, bin alleinerziehend und soll in der Pandemie abends auch noch meine Kinder unterrichten. Ich gebe zu, daß ich oftmals die Fragestellungen der Hausaufgaben nicht verstehe. Ich bin examinierte Altenpflegerin und keine Pädagogin.“

Mütter, die am Limit arbeiten – das wirkt sich auch auf die Kinder aus: „Sie ist einerseits aggressiv geworden, motzt ‘Corona ist Scheiße’ und ‘Ich hasse mein Leben’. Sie knallt Türen und schlägt ihren kleineren Bruder, andererseits ist sie wehleidig, klagt ständig über Bauch- und Kopfschmerzen.“ Das Mädchen ist neun Jahre alt, leidet unter einer Entwicklungsverzögerung und hat Sprach- und Hörprobleme. „Deshalb bekam sie auch eine Maskenbefreiung, sie muß die Mimik des Gegenübers sehen, damit sie denjenigen besser und schneller verstehen kann.“

Doch einige Lehrer verlangen, daß das Kind die Maske im Unterricht aufsetzt. „Die versuchen, die Kinder so zu verängstigen und Krankheiten einzureden“, ist die Mutter sich sicher. Die Kleine war eine begeisterte Reiterin. „Doch alles, was sie einmal konnte, traut sie sich nicht mehr zu. Sie galoppiert nicht mal mehr mit dem Pferd an. Corona nimmt meinem Kind den Lebensmut.“

Die Belastung auf allen Seiten ist enorm hoch. „Ich bin am Limit“, sagt eine Berliner Gymnasiallehrerin. Sie unterrichtet Italienisch und Geschichte. „Als nach dem ersten Lockdown die Kinder wieder in die Schule durften, war das einfach wunderbar. Es herrschte eine freudige Stimmung. Ich erinnere mich an eine dankbare Stimmung unter den Schülern.“ Noch immer schwärmt die Pädagogin, erzählt davon, wie ihre Schüler sich umarmten, Körperkontakt suchten, auch wenn das verboten war. „Geht auseinander, sagte ich dann mit einem Augenzwinkern.“

„Auch emotional geht es den Schülern immer schlechter“

Doch irgendwann schlug die Stimmung um. Auf den Pausenhöfen achteten die Kollegen auf den Abstand und das zwingende Tragen der Masken. „So etwas verändert Denkmuster, selbst Essen war nicht mehr ohne Maske erlaubt. Zwar durften die Kinder noch zum Abbeißen des Brotes die Maske abnehmen, aber während des Kauens mußte sie aufgesetzt werden.“

Manche Kinder standen den Corona-Maßnahmen kritisch gegenüber. „Aus denen platzte manchmal heraus, daß ihre Eltern nichts davon hielten, die wurden dann gemobbt. Und so begann eine Schweigespirale, niemand wagte mehr Kritik zu üben – bis heute.“

Ende vergangenen Jahres wurde das Klassenzimmer virtuell, und das scheint für die Schüler noch problematischer. „Wurde der Videounterricht zu Beginn noch gut angenommen, sehe ich aktuell von zwölf Schülern nur zwei Schülerinnen. Die Aggressivität nimmt auch den Lehrern gegenüber zu. Die Antworten werden patziger. Beim Vokabelabfragen schalten die Schüler einfach die Kamera aus, so kann kein Lehrer kontrollieren, ob sie gelernt haben oder einfach spicken. Andere schalten den Computer plötzlich aus. Das ist so, als ob sie einfach den Klassenraum verließen. Dieses Gefühl haben die Kinder allerdings gar nicht. Ein Computer ersetzt eben keinen Klassenraum.“

Ein besonderes Problem scheinen hochmotivierte Eltern zu sein. „Manche Mütter nehmen unerkannt am Video-Unterricht teil. Andere schreiben mir vier DIN-A4-Seiten Kritik inklusive Verbesserungsvorschläge. Mein E-Mail-Postfach quillt über. Der Ton ist teilweise unmöglich, es fehlen einfachste Höflichkeitsformen wie die Anrede. Die Anonymität fördert die Aggressivität, oftmals bei Vätern.“

Die Konsequenz der Lehrerin: „Die schlechteste Note, die ich vergebe, ist eine drei minus. Ich habe nie gedacht, daß ich einmal so tief sinken würde, aber ich habe einfach keine Kraft mehr.“ Es ist ein deprimierendes Zeugnis, das die Lehrerin den letzten Monaten ausstellt: „Es war ein verlorenes Jahr für die Schüler. In sozialer und fachlicher Hinsicht sind sie auf der Strecke geblieben.“ 

Ihr Kollege, ein Oberstudienrat an einer Gemeinschaftsschule in Berlin, gibt ihr recht: „Ich teile die geschilderten Erfahrungen und kann nur jedem Schüler raten, das Schuljahr zu wiederholen.“ Die größten Leidtragenden sieht er in den unteren Klassen. „Lesen, Schreiben, Rechnen kann man sich nicht im Homeschooling beibringen.“

Auch die steigende Aggressivität nimmt er wahr. „Gewaltvorfälle nehmen zu, also Schlägereien oder Würgeangriffe.“ Aber auch emotional gehe es den Schülern immer schlechter. Er ließ einen Aufsatz schreiben, jeder sollte etwas Positives aus dem vergangenen Jahr erzählen. „Glauben Sie mir, es kamen kaum Rückmeldungen – und wenn doch, nur Tristesse.“

Der Geschichtslehrer sieht allerdings auch soziale Benachteiligungen, die durch die Pandemiestrategie des Berliner Senats zutage träten: „Dieser Videounterricht ist nur durchführbar, wenn die Kinder Endgeräte haben. Für Sozialhilfeempfänger ist das kein Problem, die bekommen sie samt iPad vom Staat gestellt. Die Kinder, deren Eltern im Niedriglohnsektor arbeiten, 1.300 Euro nach Hause bringen, die bekommen nichts gestellt.“

„Kürzlich“, erinnert sich die Mutter (49) einer 16jährigen Gymnasiastin aus Frankfurt, „kam meine älteste Tochter mit Tränen in den Augen zu mir. Sie erzählte mir, daß unsere Mittlere ihr gesagt habe, sie wolle Selbstmord begehen, und sie hätte für jeden von uns schon einen Abschiedsbrief geschrieben.“ Das junge Mädchen leidet schon länger an einer Depression. Die Mutter durchsucht das Zimmer ihrer Tochter nach den Briefen, hofft so, Anhaltspunkte auf das Wann, Warum und Wie zu entdecken – ergebnislos. „Meine Angst um unsere Tochter wächst auch, weil sich vor kurzem ein Mitschüler das Leben genommen hat.“ 

„Ich befürchte, daß es nie wieder so wird wie früher“

Die Jugendliche ist sehr ehrgeizig, setzt sich stark unter Druck. „Die Erkrankung hatten wir bis zum vergangenen Jahr unter Kontrolle, doch durch Corona, als die Schulen schlossen, verschlechterte sich ihr Zustand zusehends.“ Die Mutter vermutet als Auslöser den Abbruch der sozialen Kontakte und den Wegfall der Alltagsstruktur. „Meine Tochter zog sich zurück, wollte nicht mehr mit uns essen. Sie rastete schon aus, weil jemand ihres Erachtens nach am Eßtisch zu laut kaute. Der Umgang mit ihr ist jetzt wie das Gehen auf Eierschalen.“

Doch die Mutter ist froh, daß ihre Tochter einer Psychotherapie zugestimmt hat. „Und dann hatten wir auch noch das Glück, innerhalb von zwei Monaten einen Therapieplatz zu bekommen. Das ist jetzt irrsinnig schwierig, weil die Praxen überlastet sind. Mir sagte unser Therapeut vor kurzem, daß er jetzt reihenweise Kinder in Not abweisen müßte – er hat einfach keine Kapazitäten mehr.“

Zum Ende des Gesprächs sagt sie, daß sie auf ein schnelles Ende der Pandemie zwar hoffe. „Aber ich befürchte, daß es nie wieder so wird wie früher.“