© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/21 / 07. Mai 2021

„Angstsymptome bei Kindern nehmen zu“
Psychiater Martin Feichtinger über Belastungen von Heranwachsenden im Dauerlockdown: „Kindern ein so normales Leben ermöglichen, wie es die Umstände zulassen“
Christian Rudolf

Herr Dr. Feichtinger, seit November ist Dauerlockdown. Schule, Sport, Musikunterricht: alles reduziert bis gar nicht. Was macht es mit den Kindern und Jugendlichen, wenn deren gewohntes Leben nicht mehr erlaubt ist?

Dr. med. Martin Feichtinger: Viele Kinder sind durch die Lockdowns sozial isoliert, vor allem solche aus Kleinfamilien.Viele verbringen den Großteil des Tages mit digitalen Medien. Längsschnittuntersuchungen, aktuell die Hamburger Copsy-Studie mit über 1.500 Kindern und Jugendlichen, zeigen eine Zunahme verschiedener Auffälligkeiten wie psychosomatischen Beschwerden, Depressionen, Angstsymptomen, Auffälligkeiten des Sozialverhaltens und Hyperaktivität. Kinder und Jugendliche wollen die Welt entdecken und für sich erobern. Ich empfehle Eltern deshalb immer wieder, ihren Kindern ein so normales Leben zu ermöglichen, wie es die Umstände zulassen und Treffen mit einzelnen Freunden zu fördern, am besten draußen.

Nehmen Sie seitdem eine Häufung von Terminwünschen in Ihrer Praxis wahr?

Feichtinger: Ja, eindeutig. Und auch aus den Kliniken wird mir ähnliches berichtet.

Die Teenagerzeit gilt als Schlüsselperiode für die Selbstfindung. Die Heranwachsenden nabeln sich ab. Wie verändert es deren Selbstwahrnehmung, wenn sie in dieser Phase die Erwachsenen als verunsichert und ängstlich erleben?

Feichtinger: Adoleszente Jugendliche vergleiche ich gerne mit Schiffen, die für das weite Meer geschaffen sind, aber für stürmische Zeiten unbedingt den sicheren Hafen der Familie brauchen. Bindungsforscher sprechen vom Wechselspiel zwischen Bindung und Exploration, also dem Wunsch, die Welt zu entdecken, und dem Bedürfnis nach vertrauter Sicherheit. Wenn der elterliche Hafen nun unsicher und brüchig wird, erzeugt das Ängste. Dazu kommt, daß seit März 2020 die Hafenausfahrt immer wieder über Monate versperrt ist, um im Bild zu bleiben. Kindern und Jugendlichen wird dadurch weitgehend die Möglichkeit genommen, durch neue Erfahrungen innerlich zu wachsen. Durch Schulschließungen wird das erheblich verstärkt.

Welche Faktoren sind es, die manche Schüler stark bleiben und gut zurechtkommen lassen, wogegen andere auffällig werden und mit Gewalt oder selbstverletzendem Verhalten reagieren?

Feichtinger: Sowohl die Ergebnisse der Copsy-Studie als auch meine Erfahrungen in der Praxis zeigen, daß ein stabiles, unterstützendes Familienleben ein hervorragender Schutzfaktor ist. Das trifft nicht nur für die derzeitige Situation zu, sondern für praktisch alle Krisen. Wirklich prekär ist die Situation alleinerziehender, erwerbstätiger Eltern. Ich erlebe Kinder, die monatelang nichts gelernt haben, weil die Mütter abends erschöpft nach Hause kommen, das Kind sich nicht für Schulaufgaben motivieren läßt und nicht für die Notbetreuung qualifiziert ist. Sehr schwer ist auch die Situation der Kinder mit Migrationshintergrund, deren Eltern Deutsch nicht hinreichend beherrschen. Auch beengte Wohnverhältnisse wirken sich negativ aus.

Corona-Infektionen stellen für Kinder kaum ein Risiko dar. Was denken Sie als Kinder- und Jugendpsychiater darüber, daß Schulkinder auf Schulhöfen und beim Sport Maske tragen müssen?

Feichtinger: Die Maske verdeckt den größten Teil der Mimik, behindert dadurch soziale Interaktionen und stört den unmittelbaren Zugang zueinander. Die Pflege freundschaftlicher Beziehungen zu Klassenkameraden, die ja gerade in den Pausen stattfindet, leidet darunter, wodurch die Isolation und Vereinsamung der Kinder noch weiter zunimmt. Die Gefahr einer Ansteckung an der frischen Luft ist sehr gering, nehmen Sie die Übersicht bei Tommaso C. Bulfone (siehe Nachweis unten). Man könnte also mit einem sehr geringen Zusatzrisiko Kindern in den Hofpausen eine maskenfreie Insel der Normalität schaffen, wo sie unbeschwert miteinander umgehen und in jeder Hinsicht frei durchatmen könnten. 

Man liest, daß Kinder sogar beim Schulsport eine Maske tragen müssen. 

Feichtinger: Das Tragen einer Maske beim Sport halte ich für eine besondere Zumutung. Das schnellere und tiefere Atmen unter körperlicher Belastung wird durch die bremsende Maske für viele zur Qual. Da ist es besser, den Sportunterricht in weitläufige Außengelände zu verlegen. Was hingegen Masken in Innenräumen betrifft, finde ich die Abwägung schwierig: Auf der einen Seite sehe ich die bereits erwähnten Risiken, das „Angstsignal“, welches die Maske aussendet, das spärliche Wissen darüber, welche medizinischen Effekte Masken bei Kindern haben, das geringe Risiko für eine schwere Erkrankung bei Kindern. Auf der anderen Seite konnten Masken in einigen Untersuchungen die Ausbreitung des Virus reduzieren.

Testpositive Kinder werden in Schulen vor aller Augen weggeführt und abgesondert. Die UN-Kinderrechtskonvention bestimmt, daß bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, deren Wohl vorrangig zu berücksichtigen sei. Paßt das zusammen?

Feichtinger: Dem Wohl der Kinder und der Familien dient ein ungehinderter Zugang zu den Schulen eindeutig am meisten. In Schweden führte dies zu keinem nennenswerten Anstieg der Infektionen unter den Schülern, übrigens trotz normaler Klassenstärken und spärlichem Maskengebrauch. Allerdings verdoppelten sich die Infektionen der Lehrer, verglichen mit den oberen Klassen, in denen der Unterricht online stattfand. In Abwägung von Nutzen und Risiken finde ich das Angebot von Antigen-Schnelltests einen interessanten Ansatz. Ebenso wie für Arbeitnehmer sollten die aber auch für Schüler freiwillig sein und zu Hause erfolgen. Damit würde man einer Stigmatisierung vorbeugen. Es gibt hier und da besonders pandemiebewußte Klassenkameraden, die ihren armen positiv getesteten Mitschülern vorwerfen, das Virus in die Schule eingeschleppt und alle in Gefahr gebracht zu haben. Auch ist der Nutzen der Tests zu Hause größer, weil Kinder mit Infektionsverdacht gar nicht erst in die Schule kommen.






Dr. med. Martin Feichtinger praktiziert seit 2012 als niedergelassener Kinder- und Jugendpsychiater in Erfurt. Er ist verheiratet und hat fünf Kinder.

Tommaso C. Bulfone et al.: „Outdoor Transmission of Sars-CoV-2 and Other Respira-tory Viruses: A Systematic Review“

Meinungsbeitrag Seite 2