© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/21 / 07. Mai 2021

Letzte Rettung – ein Bündnis von Macht und Tradition
Rußland: Im Herbst wird gewählt, und aktuelle Meinungsumfragen offenbaren eine stragnierende Zustimmung für die Kremlpartei „Einiges Rußland”
Jörg Sobolewski

Mit Spannung wurde die Rede Wladimir Putins an die Föderationsversammlung am 21. April erwartet. Viele Gerüchte waren im Umlauf, alles von der diplomatischen Anerkennung separatistischer „Volksrepubliken“ in der Ostukraine bis hin zur Angliederung Weißrußlands hielten Insider für möglich. Doch die Rede, die Putin schließlich halten sollte, war mehr innerrussischer Wahlkampf als großer außenpolitischer Wurf. 

Während viele im In- und Ausland auf Antworten zu den brennenden Themen der russischen Politik (Weißrußland, Ukraine, sinkende Einkommen) gewartet haben, beschäftigte Putin sich vor allem mit einer Aufzählung seiner Sozialmaßnahmen. 

Opposition und Rezession verschwanden so unter einer Decke aus sozialen Wohltaten. Putin der ewige Präsident, der sich kümmert um die Schwächsten in Rußland, so das erzeugte Bild. 

Ermüdungserscheinungen bei Putin-Stammwählern

Denn im Herbst wird in Rußland wieder gewählt, und die aktuellen Meinungsumfragen zeigen, daß die Zustimmung für die Kremlpartei „Einiges Rußland“ stagniert. Etwas mehr als ein Viertel der Stimmen – 27 Prozent Prozent – sieht das renommierte Lewada Institut hinter Putins Partei. Drei andere Parteien, von denen zwei als putintreu gelten, haben ebenfalls gute Chancen, die Fünfprozenthürde zu überspringen, und würden zusammen 41 Prozent der Wähler hinter sich vereinen. 

Ein schwaches Ergebnis verglichen mit den letzten drei Wahlen, aber ein Ergebnis, das der Putin-Partei nahezu die Hälfte der über die Liste zur Wahl stehenden Parlamentssitze einbringen könnte. Inklusive der Direktmandate, denen momentan rund die Hälfte der Mandate in der Duma entsprechen, kann die Regierungsfraktion in der nächsten Legislaturperiode sehr wahrscheinlich die nötige Parlamentsmehrheit von 226 Sitzen erreichen. 

Ein schwaches Ergebnis, aber ein ausreichendes. Denn die ausbleibende reale parlamentarische Konkurrenz zusammen mit der laufenden Repression gegen Alexei Anatoljewitsch Nawalny und seine Mitstreiter läßt eine Alternative zum System Putin gar nicht erst aufkommen.

 „Einiges Rußland ist unpopulär, aber es ist immer noch populärer als alle anderen“ meint Maria Lipman, Rußlandanalystin an der George Washington Universität. Es liege daher nahe, daß „Putin darauf Wert legen wird, auf saubere Weise stärkste Kraft zu werden“, sagt auch Yekaterina Schulmann, Journalistin und Politikwissenschaftlerin bei Ekho Moskvy, einer oppositionellen Radiostation in Moskau. 

Denn in einer zunehmend instabilen außenpolitischen Lage ist der Präsident auf möglichst legitime Wahlen angewiesen. Ein unnatürlich gutes Ergebnis für die Staatspartei würde hier das Parlament schwächen und seine Wiederwahl 2024 unter Umständen mit neuen Massenprotesten überschatten. 

Tatsächlich zeigen sich nach elf Jahren unter Putin Ermüdungserscheinungen in Rußland. Vorbei die Tage, in denen Putin auf einer Welle der Begeisterung das Land nach seinem Gusto umformen konnte. Heute herrscht zwischen Königsberg und Wladiwostok häufig Desinteresse oder Resignation. 

Steigende Sozialausgaben als Beruhigungspille 

Bereits vor der Corona-Krise kam von der Stabilisierung der russischen Wirtschaft bei den Bürgern wenig an. Im letzten Jahr vor Corona, 2019, lagen die real verfügbaren Einkommen immer noch 7,9 Prozent niedriger als 2013  – vor den Rußlandsanktionen im Zuge der Krimkrise. Trotz aller außenpolitischen Erfolge ist der Kreml nicht in der Lage gewesen, diese in wirtschaftlichen Gewinn für die Bürger der Föderation umzuwandeln. Umfragen zufolge sind die Russen müde von außenpolitischen Themen, eine Ablenkung durch einen schnellen Erfolg etwa in Syrien ist somit unwahrscheinlich. 

Damit bleibt am Ende nur die Beruhigungspille der Sozialausgaben, von denen vor allem Familien mit Kindern profitieren sollen. Eine „politische Investition in konservative Werte, der Versuch, das ideologische Bündnis des Präsidenten mit den Traditionalisten finanziell zu untermauern“, nennt das die Politologin Tatjana Stanowaja vom amerikanischen Carnegie-Institut. Im Jahr 2021, so scheint es, verläßt sich Putin auf das Bündnis von Macht und Tradition – wie zuletzt die Zaren vor ihm.