© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/21 / 07. Mai 2021

Distanz gegenüber Zumutungen
Künstlerprotest: Die Video-Aktion #allesdichtmachen von Schaupielern erhitzt noch immer die Gemüter
Thorsten Hinz

Als Bilanz der Video-Aktion #allesdichtmachen von ursprünglich 53 Schauspielern kann nach zwei Wochen festgehalten werden: Die Kurzvideos wurden millionenfach angeklickt, was auf Interesse, Attraktion und Zustimmung schließen läßt. Auch die Karikierten und Persiflierten – hauptsächlich Journalisten und Politiker – haben sich wiedererkannt und sind erzürnt. Da sie in den großen Medien über ein Quasi-Monopol verfügen, sind es sie nun, die die öffentliche Diskussion über den Auftritt der beteiligten Schauspieler bestimmen. So ist überwiegend von Geschmacklosigkeit, Grenzüberschreitung, von sinisteren Drahtziehern, sogar vom Faschismus-Revival und von Antisemitismus die Rede. Nicht die Maßnahmen, die in den Videos hinterfragt werden, werden zur Debatte gestellt, vielmehr wird die Kritik an der Politik zum Skandal erklärt.

In einer funktionierenden Demokratie und Mediengesellschaft wäre die Frage, ob die Maßnahmen der Regierung angemessen, zielführend, verhältnis- und rechtmäßig sind, eine glatte Selbstverständlichkeit. Ebenso die Frage, ob ihre sozialen, ökonomischen, gesellschaftlichen und sogar medizinischen Folgeschäden nicht schlimmer sind als die Krankheit selbst. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben spricht inzwischen vom „sanitären Terror“, der die Gesellschaft zerstört. Im übrigen sind weder Opernhäuser, Theater noch Restaurants als Viren-Schleuder bekannt geworden. Da in der Bundesrepublik weder die politischen Institutionen noch die großen Medien pflichtgemäß funktionieren, haben Künstler die kommunikative Lücke zu füllen versucht – so wie einst im sozialistischen Ostblock.

Als inoffizielle Sprecher haben sich der Schauspieler Jan Josef Liefers und der Regisseur Dietrich Brüggemann herauskristallisiert. Sie haben sich wacker geschlagen, bis an den Rand des Möglichen. Was heißt: Ohne sich kopfüber und sinnlos ins soziale Aus zu stürzen. Der aus Dresden stammende Liefers hat beispielsweise in Interviews völlig unaufgeregt auf seine DDR-Erfahrungen verwiesen. So als ein WDR-Moderator ihn mit Blick auf den Beifall von „Corona-Leugnern“ und „rechtsextremen Lügepresse-Schreihälsen“ fragte, ob er, Liefers, wirklich so naiv sei, und der Schaupieler antwortete: „Wissen Sie, wann das letzte Mal jemand zu mir gesagt hat: Sind Sie so naiv? Das war ein Mitarbeiter des Zentralkomitees in der DDR auf der Schauspielschule.“

Manche machen den Akteuren den umgekehrten Vorwurf, sich in der Vergangenheit konformistisch verhalten zu haben und sich jetzt nur deshalb zu Wort zu melden, weil sie selber betroffen sind. Diesen Kritiker-Puristen kann man entgegenhalten: Immerhin, sie haben es gewagt. Und zweitens: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, gehen Menschen für ein allgemeines Interesse erst dann ein persönliches Risiko ein, wenn es für sie persönlich konkret wird.

Eine Gegenposition nimmt der Theater- und Filmregisseur Leander Haußmann ein. Seine in der Tageszeitung Die Welt am 23. April veröffentliche Stellungnahme dürfte im Kulturbetrieb mehrheitsfähig sein. 

Er hebt sich insofern vom Mainstream ab, als er auf Kollegenschelte verzichtet und sogar Verständnis für die Aktion #allesdichtmachen bekundet. Doch das ist nur der Hintergrund, vor dem er sich als ein Künstler präsentiert, der staatsbürgerliche Verantwortung wahrnehmen will, indem er der Regierung beispringt. Die Kritik an ihr kommt dezidiert staatstragend daher: „Die Politik hat es verpaßt, sich die Künste zunutze zu machen.“ Er habe einen Anruf von Merkel erwartet: „Helfen Sie uns! Unterstützen Sie uns, geben Sie uns einen Teil ihres kreativen Potentials. Sie sind doch ein Profi, wir wissen nicht, wie wir die Menschen da draußen erreichen.“

Während die Schauspieler in den Kurzvideos von der standardisierten, sinnentleerten Rhetorik der Politik auf deren zweifelhaften Inhalt schließen, gibt Haußmann sich staatsgläubig und bietet seine Mitarbeit an: „Wir hätten was Sinnvolles auf die Beine stellen können. Mit guten Autoren, einem Konzept und Geld.“ Die Kunst empfiehlt sich der Politik als geldwerter Stoßtrupp, Abteilung „Agitation und Propaganda“. 

Der Kniefall ist um so erschütternder, weil Haußmann, Jahrgang 1959, ebenso wie Jan Josef Liefers Absolvent der Schauspielschule Ernst Busch, in der DDR zu den „jungen Wilden“ um den Theater-Anarcho Frank Castorf zählte, die den Ehrgeiz hatten, für die Dauer eines Theaterabends den realsozialistischen Irrsinn aus den Angeln zu heben. Die Parallelen zur Gegenwart können ihm unmöglich entgangen sein. Die täglich gemeldeten Infektions-, Inzidenz- und Sterbezahlen sind, weil ein objektiver Bezugsrahmen fehlt, ähnlich sinnfrei wie die Produktionsziffern, die von der „Aktuellen Kamera“, der Hauptnachrichtensendung des DDR-Fernsehens, allabendlich verkündet wurden. 

So erweisen der Medien- und Kulturbetrieb sich erneut und mehr denn je als Fehlfunktionen. Was sich in ihren Innereien abspielt und was sie als Botschaften nach außen senden, kann für das Denken und Handeln mündiger Menschen wirklich kein Maßstab mehr sein. Es wäre sinnlos und geradezu ein Akt geistig-moralischer Selbstverletzung, sich um Anschlußfähigkeit zu bemühen.

Der zu DDR-Zeiten promovierte Philosoph und Politikwissenschaftler Lothar Fritze hat in seinem vorletzten, 2020 erschienenen Buch „Angriff auf den freiheitlichen Staat“ die Situation wie folgt beschrieben: Deutschland befinde sich in einer „nationalen Gefährdungslage“, und zwar aus hausgemachten Gründen: „Dieses Land ist angesichts seiner Denkverbote, seiner ideologisch verbohrten Sprachregelungen und seiner ins Irrationale abgeglittenen ‘Debattenkultur’ schon heute zu einer halbwegs realistischen Zustandsbeschreibung seiner selbst nicht mehr fähig.“ Es treibe in einem „nicht anders als totalitär zu bezeichnenden Fahrwasser“. Geschrieben wurden diese Sätze, noch bevor das Corona-Regiment sich voll entfaltete.

Die Reaktionen auf die Aktion sind also als Teil einer größeren Entwicklung zu betrachten. Im Zuge der Pandemiebekämpfung wird ein Kontroll- und Überwachungsregime installiert und das Zusammenleben unter Maßgabe willkürlicher Hygieneregeln neu organisiert. Die Population wird sortiert nach Geimpften, Nichtgeimpften, nach Erst-, Zweit- und Mehrfachgeimpften, Impfverweigerern, Getesteten, Nichtgetesteten, Risikogruppen. So können die Menschen in eine ebenso dauerhafte wie künstliche Dynamik versetzt, gesteuert und fremdbestimmt werden.

Das Parlament hat als Diskussions- und Entscheidungsforum abgedankt, der Föderalismus ist faktisch aufgehoben. Über die Medien als „vierte Gewalt“ ist kein Wort mehr nötig. Und ob der Rechtsstaat tatsächlich noch funktionsfähig ist, steht nach der Hausdurchsuchung bei dem Weimarer Richter, der die Maskenpflicht für Schüler aufhob, stark in Zweifel.

Der Verfassungsschutz hat einen neuen Phänomenbereich mit der Bezeichnung „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ geschaffen, was auf die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen zielt. Das Insistieren auf die in der Verfassung verbürgten Grund- und Abwehrrechte wird damit zu einer staats- und verfassungsfeindlichen Angelegenheit. Das ist kafkaesk und wäre eine Sache für den Kunst- und Kulturbetrieb. Aber die sind ja abgeschaltet und betteln mehrheitlich darum, sich als systemrelevant ins große Ganze einfügen zu dürfen.

Es gilt daher, alte Kultur- und Abwehrtechniken wiederzuentdecken, die einst im Ostblock gepflegt wurden. Das Binnenexil. Den Samisdat. Die Kultivierung des Privaten. Die Mimikry, wo Offenheit bloß zu unnützer Konfrontation oder Selbstgefährdung führt. Die innere Distanz gegenüber äußeren Zumutungen. Die Einsicht schließlich, daß „Gesellschaft kollektive Unaufrichtigkeit“ bedeutet, wie es in Andrej Bitows Roman „Puschkinhaus“ heißt, der in der Sowjetzeit spielt. 

Der Versuch, sich in einer zunehmend unfreien Gesellschaft als freier Mensch zu behaupten, ist die große kreative Herausforderung für die Zukunft.

Foto: Jan Josef Liefers in der Talkshow „Maybrit Illner“ (29. April): „Bei relativ undifferenzierten Maßnahmen ist es schwer, eine differenzierte Kritik zu verlangen.“