© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/21 / 07. Mai 2021

Der große Riß im Ausnahmezustand
Cleavage: Die Kluft zwischen Vertretern eines strengen Lebensschutzes und den Verteidigern der Freiheitsrechte
Felix Dirsch

Die Corona-Krise hat längst Züge eines existentiellen gesellschaftlichen Grundkonfliktes angenommen. Daß der „Ausnahmezustand auch rechtswissenschaftlich ausgerufen“ wurde und nicht nur als Gegenstand rechtsphilosophischer Seminare fungiert, haben die Verfassungsjuristen Jens Kersten und Stephan Rixen („Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise“) bereits einige Zeit vor den aktuellen hektischen Gesetzesverschärfungen konstatiert. Die Politikwissenschaft spricht von einem Cleavage, einer Kluft, die Verschiebungen in der sozialen und politischen Architektonik bewirkt. Mittlerweile ist ein agonistischer, also konfliktiver Zustand des politischen Systems, den Politiktheoretiker wie Chantal Mouffe gegen die Langeweile des Mitte-Diskurses vor Jahren lediglich postuliert hatten, an allen Ecken und Enden zu spüren.

Hier steht eine zweizeilige Zwischenüberschrift

Die Bundesrepublik galt lange als Schönwetterrepublik ohne fundamentale Dissonanzen. Die vielzitierte „Umgründung“ (Manfred Görtemaker) von 1968 wird man schwerlich als existentiellen Einschnitt betrachten können, sind doch die ideologischen Kämpfer nicht ohne Wirtschaftswunder denkbar, das weltanschauliche Bruchlinien partiell zugeschüttet hat. Eine neue Partei hat sich aus den primär generationell bedingten Scharmützeln erst später herausgebildet. Die neuen Herausforderungen der siebziger Jahre (Geschlechterrollen, Friedenssehnsucht und Ökologie) fungierten als Katalysatoren bei der Entstehung der „Grünen“.

Auch die Wiedervereinigung von 1989/90 konnte, allen sozialen und mentalen Schwierigkeiten zum Trotz, mit Hilfe enormer finanzieller Solidarleistungen gestemmt werden. Die beiden Teile Deutschlands drifteten nicht so weit auseinander, wie anfangs befürchtet. Die Partei „Die Linke“ konnte und kann bis heute aus den ökonomischen Disparitäten, die sich im Laufe der Zeit indessen verringerten, Honig saugen.

Von einem neuen Cleavage hat man zuletzt vor dem Hintergrund der Migrationskrise 2015/16 gesprochen. Infolge der Kontroversen konnte sich die Alternative für Deutschland (AfD) nachhaltig konsolidieren. 

Die Auseinandersetzungen seit Frühjahr 2020 um das Thema „Corona“ aus verschiedenen Blickwinkeln (medizinischen, sozialen, politischen, kulturellen und so fort) werden wohl später als ein für die Geschichte der Bundesrepublik nachhaltiger Cleavage beschrieben werden. Als vorrangige Bruchlinie ragt die zwischen den Vertretern einer strikten Lebens- und Infektionsschutzstrategie, die mit juristischen Maßnahmen rigide durchzusetzen ist, und denen heraus, die sich gegen die Suspendierung von Freiheitsrechten wenden.

Während in der Bundesrepublik und in anderen europäischen Ländern unlängst weitere Einschränkungen der Grundrechte beschlossen wurden – zuletzt in Form des „Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ –, kann man im weltweiten Maßstab teilweise andere Entwicklungen bemerken.

Der Umgang mit dem Virus wird zukünftig als Streßtest für die Verfassung der einzelnen Staaten gelten. Das Gut Leben wird im allgemeinen höher im Vergleich zur Freiheit bewertet. 

Unser Grundgesetz verbietet aus gutem Grund die Abwägung der (vielfältig interpretierbaren) Würde des Menschen. Hingegen können Grundrechte (wie das Recht auf Leben) prinzipiell eingeschränkt werden. Daß der Schutz des Lebens in vielen Debatten während der gegenwärtigen Zäsur priorisiert wird, hängt nicht zuletzt mit der Dominanz des säkularisierten Bewußtseins zusammen. Selbst die kirchlichen Verlautbarungen bevorzugen oft Heilung statt Heiligung. Gerade für sie sollte sich aber die Frage nach dem Wozu stellen. Verdient es das „nackte Leben“ (Giorgio Agamben), das „kurz und unwiederbringlich“ (Hans M. Enzensberger) ist, verabsolutiert zu werden? Dafür müßten sich nicht nur Theologen interessieren.

Nun ist der gesellschaftliche Riß nicht so diametral, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Auch die Gegner des staatlichen Krisenmanagements verweisen neben den wirtschaftlichen und sozialen Schäden auf lebensbedrohende Gefahren als Konsequenz des „Lockdowns“: vermehrte Selbstmorde und Gewaltanwendung, Verschiebung von Vorsorgeterminen und wichtigen Operationen, frühere Tode infolge wachsender Vereinsamung und so weiter. Flankiert wird eine solche Sicht durch die Stanford-Studie des renommierten Epidemiologen John Ioannidis: Die Lockdown-Maßnahmen hätten nichts gebracht im Vergleich zu leichteren Restriktionen, wie sie etwa in Schweden oder Südkorea getroffen wurden. 

Vollkommener Lebensschutz ist ohnehin faktisch unerreichbar. Selbst Zero-Covid-Anhänger setzen sich zumeist nicht für das Verbot des Straßenverkehrs ein, obwohl die Teilnehmer nicht nur sich selbst, sondern auch andere gefährden. Der Philosoph Julian Nida-Rümelin hat die Bewältigung der Pandemie im allgemeinen Kontext eines rationalen Risikomanagements durchgespielt, so in seinem Buch „Die Realität des Risikos“.

Ob die aktuellen faktischen Ausnahmegesetze auch in anderen „Notlagen“, etwa einer „Klimakatastrophe“, zur Anwendung kommen werden, ist eine offene Frage. Das juristische Erbe diverser Ermächtigungsverordnungen wird wohl für lange Zeit prägende Wirkung entfalten.