© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/21 / 07. Mai 2021

Pesthauch des Despotismus
Literatur: „Eine Seuche in der Stadt“ von Nawalny-Unterstützerin Ljudmila Ulitzkaja entlarvt Wechselwirkungen zwischen Diktatur und Gesundheitsschutz
Dietmar Mehrens

Mayer wirft sich hin und her, schnappt krampfhaft nach Luft. Auf seine Lippen tritt rosa Schaum. Schweiß rinnt ihm von der Stirn.“ Moskau 1939. Es steht schlecht um Rudolf Iwanowitsch Mayer. Er leidet an einer Krankheit, gegen die eine Covid-19-Infektion aussieht wie ein Papiertiger im Vergleich zu einem echten Tiger. Mayer, eine Art sowjetischer Vorläufer von Christian Drosten, hatte den Auftrag, einen Impfstoff gegen die Lungenpest zu entwickeln. Ein Meilenstein sollte der sein „auf dem Weg zum endgültigen Sieg des Kommunismus auf der ganzen Welt“, so will es das Volkskommissariat für Gesundheit. Und nun das: Mayer hat es selbst erwischt. Schon auf der Sitzung des Volkskommissariats fühlt er sich schwach und erschöpft – erste Symptome. Er landet in einer Moskauer Klinik, die kurz darauf unter Quarantäne gestellt wird. Rasch wird den Verantwortlichen klar: Auf dem Weg von seinem Labor in Saratow zum Präsidium der Medizinischen Akademie in Moskau ist der Epidemiologe in Berührung gekommen mit Reisenden, Hotelgästen und den hohen Tieren des Volkskommissariats. Was nun folgt, erinnert an Steven Soderberghs Pandemie-Schocker „Contagion“, der bereits vor zehn Jahren die tödlichen Folgen eines global grassierenden Virus mit krassen Bildern und unüberschaubarem Personeninventar vor Augen malte. Nur gab es vor achtzig Jahren die für Soderberghs Filmskript essentielle Globalisierung noch nicht.

Abrechnung mit dem Stalinismus

Einen Film hatte auch Ljudmila Ulitzkaja vor Augen, als sie bereits im Jahre 1978 das jetzt als Erzählung erschienene Szenario verfaßte. Sie wollte sich damit für einen Drehbuchkurs bewerben. Im Jahr der Pandemie an ihr eigenes Zuhause gefesselt, stieß die 78jährige beim Aufräumen wieder auf den längst vergessenen Stoff, der nicht nur durch die Pandemie, sondern natürlich auch durch Putins Propaganda-Erfolg mit Sputnik V, dem ersten Impfstoff gegen das neuartige Coronavirus, plötzlich beklemmend aktuell wurde. 

Ulitzkaja ist in ihrer Heimat eine bekannte Autorin, überhäuft mit Preisen. In den letzten Monaten sorgte sie darüber hinaus für Schlagzeilen als eine der prominentesten Unterstützerinnen des Regimekritikers Alexej Nawalny. Man könnte ihre Rolle im Rußland der Gegenwart mit der Heinrich Bölls Anfang der siebziger Jahre in der Bundesrepublik vergleichen: große Unzufriedenheit mit der Gegenwartsgesellschaft, gepaart mit dem Wissen, daß alles auch schon viel schlimmer war, und der Hoffnung, daß jene Zeiten nicht wiederkommen.

Das Spannende an ihrem Buch: Es handelt sich nur in der Ausführung um eine Fiktion. Das Ereignis, um das sich alles dreht, die Beinahe-Katastrophe, hat sich im Jahre 1939 tatsächlich zugetragen. Das reale Vorbild für den Seuchenforscher Mayer ist ein Kollege des Vaters einer Freundin von Ulitzkaja. Durch sie erfuhr die Autorin von dem in der UdSSR kaum bekannten Vorfall, der sie, ursprünglich studierte Biologin, sogleich faszinierte. Ihr Buch will sie auch verstanden wissen als Abrechnung mit dem Stalinismus. Stalin selbst – er hat einige kurze Auftritte – wird als ignoranter und engstirniger „Sehr Mächtiger Mann“ karikiert und die Pest zur Vermeidung von Panik als Grippe ausgegeben. Als schließlich die schwarzen Häftlingstransporter, „Schwarze Raben“ genannt, ausschwärmen und unheimliche Männer an Türen klopfen, verschwimmen Pest und Despotismus zu einem gemeinsamen großen Übel. Der Nachhall der großen „Säuberungen“ ist als allgegenwärtiges Gefühl der Verängstigung auf nahezu jeder Seite spürbar. Das ist angesichts der knappen und reduzierten Sprache, mit der die Autorin zu Werke geht, beeindruckend.  

Es gehört zu den beklemmenden Befunden von „Eine Seuche in der Stadt“, daß es ausgerechnet das geschlossene System der totalitären Sowjetunion ist, dem es mit Hilfe seiner systemrelevanten Überwachungsorgane, namentlich des NKWD unter dem gefürchteten Geheimdienstchef Lawrentij Berija, gelingt, den Pestbazillus tatsächlich binnen kürzester Zeit zu bannen. „Vermutlich war dies das einzige Mal in der Geschichte dieser brutalen und rücksichtslosen Organisation, daß sie dem Wohl ihres Volkes diente“, schreibt Ulitzkaja in ihrem Nachwort. Die Moskauerin legt damit den Finger in eine seit Ausbruch der aktuellen Pandemie offene Wunde: Unfreiheit und totale staatliche Kontrolle sind ganz offensichtlich die besten Mittel, um des feindlichen Virus Herr zu werden. Sie lassen sich aber auch prima instrumentalisieren: Hausdurchsuchungen bei Nawalny-Anhängern wurden seitens der russischen Justiz mit der „Verletzung sanitär-epidemiologischer Normen“ gerechtfertigt.

Der Pesthauch des Despotismus durchweht nach Einschätzung besonders scharfer Regierungskritiker auch hierzulande bereits den Staatsapparat. Die Pandemie hat zu einer „Krise der offenen Gesellschaft“ geführt (vgl. JF 17/20) und dem Globalismus, dem System der offenen Märkte und der kosmopolitischen Schrankenlosigkeit, seine Grenzen aufgezeigt. Die Erfolge geschlossener Grenzen und nationaler Alleingänge bei der Pandemiebekämpfung machen deutlich: Für den weltumspannenden Kapitalismus wie für die mit ihr systemisch verbundene liberale Demokratie gleicht die Pandemie einem Offenbarungseid. Ulitzkaja setzt trotzdem weiter auf globale Lösungen und hofft auf ein reformiertes „politisches Weltsystem“. Doch ihr Text über eine geschlossene Gesellschaft, die (wie gegenwärtig China) Sicherheit auf Kosten der individuellen Freiheit gewährt, legt das nicht unbedingt nahe. Wäre nicht eher eine Gesellschaft mit stärkerer Abschottung nach außen und demokratischen Freiheiten im Innern das Modell der Zukunft, ein Modell, das Freiheit und Sicherheit garantiert?

Es ist ein großes Verdienst dieses kleinen Büchleins, das man mühelos in einem Rutsch durchliest, daß es seine Leser zu einer Auseinandersetzung mit solchen Fragen zwingt. Denn für den Fortbestand des westlichen Demokratiemodells in der nahen Zukunft dürften sie sich als elementar erweisen.

Ljudmila Ulitzkaja: Eine Seuche in der Stadt. Carl Hanser Verlag, München 2021, gebunden, 112 Seiten, 16 Euro