© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/21 / 07. Mai 2021

Zur Freiheit ist jeder berufen
Humanismus: Von dem vor 500 Jahren verstorbenenen Sebastian Brant stammt die zeitlose Moralsatire „Das Narrenschiff“
Eberhard Straub

Europäer wußten immer, daß politische Ordnungen im dauernden Wechsel der Zeiten nicht nur dem Wandel unterworfen sind, sondern unvermeidlich ihrem Ende entgegeneilen. Denn der Herr des Lebens und damit der Geschichte ist der Tod. Vom Untergang Trojas handelten die klassischen Bücher der Literatur, Homers „Ilias“ und Vergils „Aeneis“.

Die Katastrophe des alten Rom und des Römischen Reiches beschäftigte ununterbrochen die von jeweils widrigen Zeitläuften beunruhigten Gemüter. Denn das Römische Reich bestand ja weiter, nun den Deutschen als führendem Volk anvertraut, die den Kaiser stellten. Beiden war damit eine besondere Aufgabe gestellt worden, nämlich das Römische Reich lebensfähig zu erhalten, weil sein endgültiger Untergang die Herrschaft des Antichristen und das Chaos heraufbeschworen würde, wie es durch die Jahrhunderte hieß, seit Rom und das Christentum unauflöslich miteinander verbunden waren.

Diese Sorge um das Römische Reich beunruhigte Sebastian Brant und veranlaßte ihn zu seinem Sittengemälde und dem Warn- und Weckruf „Das Narrenschiff“, 1494 zum ersten Mal erschienen, das ihm dauernden Ruhm verschaffte. Dieser Reichspatriot, vor fünfhundert Jahren am 10. Mai 1521 gestorben, war auf vielfältige Weise Kaiser und Reich verbunden: als Jurist und Professor in Basel, als Humanist und Schöngeist, als Dichter und Übersetzer, aber auch als eifriger Schriftsteller für den Tag, und nicht zuletzt ab 1500 als Stadtschreiber und hoher Verwaltungsbeamter der Freien Reichsstadt Straßburg.

Brant bekümmerte die Systemkrise des Reiches. Die Unfähigkeit der systemrelevanten Kräfte, aus ihr herauszufinden, hing allerdings mit Entwicklungen im übrigen Europa zusammen, die überall die hergebrachte Welt erschütterten. Deshalb wurde das Buch 1496 ins Lateinische und bald aus dem Lateinischen in fast alle europäischen Sprachen übersetzt. Einen solchen Erfolg hatte bislang ein deutscher Schriftsteller noch nie erreicht. „Das Narrenschiff“ traf die reizbaren Nerven der Zeitgenossen.

Warnung vor dem Blendwerk von Theorien

Viele unter ihnen fürchteten damals, Opfer geschäftiger Unvernunft, aufgeregter Leidenschaften und kopfloser Betriebsamkeit zu werden, betrogen und getäuscht von Projektmachern, die mit ihren närrischen Energien alle verrückt machten und ruhige Besonnenheit um ihr Ansehen brachten. Sebastian Brant griff nicht die Institutionen an, die Krone, die Kirche, die Universität oder die Selbstverwaltung in den Städten. Auf deren Vernunft beruhte ja ein geordnetes Zusammenleben. Der Humanist wandte sich auch gar nicht gegen den unzulänglichen Menschen überhaupt. Ihm ging es darum, auf solche Fehler unnachsichtig hinzuweisen, die – sobald gerade Menschen in führenden Positionen ihnen erliegen – alle wohltätigen Einrichtungen im öffentlichen Leben um ihr Ansehen bringen und sie delegitimieren können.

Wer sich nicht verführen läßt von substanzlosen Redensarten, von Heilsversprechen, die jeder Erfahrung spotten, wer nicht unter dem zauberischen Glanz sogenannter Projekte zur allgemeinen Weltverbesserung den Verstand verliert, der ist in der Lage, dem Wahn und Wähnen lärmender Narren Einhalt zu gebieten, die mit ihrem Wahn-Sinn die Vernunft außer Kraft setzen. In dieser Welt voller Lug und Trug, mit dem auch die Mächtigen arbeiten, müssen möglichst viele dazu befähigt werden, die Fiktionen und Illusionen, von denen sie umgarnt werden, als solche zu erkennen und unschädlich zu machen.

Der Humanist Sebastian Brant warnt gleich zu Anfang vor dem Bücherwissen und dem Blendwerk der Theorien, das die meisten um den gesunden Menschenverstand bringt. Klug in dieser Welt zu werden, setzt voraus, sich in der Welt an der besonderen Stelle zu bewähren, die ihm Pflichten auferlegt und deshalb aber auch Rechte wie Freuden gewährt. Wer sich mit den Nöten der gesamten Welt belastet, der versäumt seine ganz eigene Aufgabe, sich in der unmittelbaren Umgebung um Recht und Frieden zu kümmern, und wird darüber unweigerlich zum lästigen Narren.

Das Geld gelangte zur Herrschaft 

Der konkrete Mensch – als Bürger, Bauer, Beamter oder Bischof – lebt in einer konkreten Ordnung oder nicht zuletzt in einer von ihm verursachten Unordnung, hervorgerufen durch die neuen Medien – Flugblätter, Holzschnitte und Broschüren –, die jedem Verantwortung aufbürden wollen, in ihrem Sinne zu handeln, um sich auf diese Weise als rechtschaffen zu bestätigen. Seit der Erfindung des Buchdruckes konnten Massen mobilisiert werden für alle möglichen oder phantastischen Transformationen, damals Reformation genannt. Alles Neue gefällt dem sensationsgierigen, großen Haufen, wie Sebastian Brant bedauert, der stets unbeständigen Menge, die stolz darauf ist, Innovationen zu begrüßen, die vorgeben, zu beleben, was sonst zu erstarren droht. Wer übermütig neuer Dinge begierig ist, nur weil sie neu sind, gerät freilich in Gefahr, von auf Einfluß und Macht bedachten Träumern mißbraucht zu werden, die lautstark danach verlangen, die Zukunft zum Vorteil ihrer Interessen zu gestalten.

Die alles bewegende Gewalt erkannten Sebastian Brant und mit ihm vor allem die Opfer des umfassenden sozialen Wandels im Geld, das nun endgültig im 15. Jahrhundert zur Herrschaft gelangte, alle von sich abhängig machend mit seinen verheißungsvollen Aussichten auf Gewinn und im Wettbewerb anderen erhebliche Nachteile zufügen zu können. Die alten Laster der Habsucht, des Egoismus und der Gier nach unmäßiger „weltlicher Üppigkeit“, die Geist und Seele korrumpiere, gewannen eine ungewöhnliche, für sie werbende Überzeugungskraft. Die neuen Reichen und die verarmten Ritter brachten das gesellschaftliche Gefüge durcheinander. Jeder wollte aufsteigen, aber keiner an Ansehen verlieren. Bürger, adelige Herren, Bauern, Priester, Beamte warfen einander mit ungemeiner Heftigkeit vor, den sozialen Frieden zu stören aufgrund ihres jeweiligen Ehrgeizes und Hochmuts, den eigenen Nutzen rücksichtslos im Auge zu behalten und darüber all das zu vergessen, was alle angeht, und dem allgemeinen Wohl dient. 

Priester, Richter, Ärzte, Handwerker, Gelehrte  – alle beschuldigten den jeweils anderen, vom Gelde korrumpiert worden zu sein, für Geld und die Karriere alles zu tun und jeden Konkurrenten mit übler Nachrede, Verdächtigungen und Anklagen ausschalten zu wollen. Ja, die zu kurz Gekommenen  beanspruchten schon trotzig, daß sie für eine neue Ordnung der Dinge sorgen müßten, wenn die Oberen kläglich versagten.

Die grimmige Empörungslust der von Neid und Wut Geplagten hielt Sebastian Brant für närrisch, wie sämtliche Übertreibungen, die das Ganze aus dem Auge verlören und daher alle notwendigen Überlegungen zu einer Reformation an Haupt und Gliedern vollends verwirrten. Aus dem Staatsschiff würde unter solchen Voraussetzungen ein Narrenschiff, aus dem Reich ein Narragonien, in dem sich Grobiane, vorlaute Schwindler, anmaßende Quacksalber oder freche Hochstapler als Experten ausgeben, von ahnungslosen Fürsten und Ministern hofiert und umworben. Den Führungskräften, von denen ein gutes Regiment erwartet werden darf, mangelt es an Einsicht, Kenntnissen und Vertrauenswürdigkeit.

Die öffentliche Ordnung bedarf des Gemeingeistes

Dieser gar nicht trübe, weil etwa verschmutzte, Spiegel sollte jedem dazu verhelfen, in ihn blickend, sich selbst als Narr zu sehen und seine Fehler überprüfen zu können. Es hilft weder dem einzelnen noch Stadt und Land, wenn er kreuz und quer herumreist, mancherlei erfährt, aber sich selbst nicht kennt. Die öffentliche Ordnung bedarf, woran Sebastian Brant, der Moralist und Praktiker, eindringlich erinnert, eines Gemeingeistes. Dieser ergibt sich aus der Summe von Übereinstimmung in gar nicht so vielen Grundsätzen über das, was man tut oder besser läßt. Sie werden nicht als Gesetze und Vorschriften formuliert, sie beruhen vielmehr auf der freien Bereitschaft eines jeden, der Stimme der Vernunft in seinem Inneren zu folgen und unter deren Schutz und Schirm vor den närrischen Versuchungen sicher zu bleiben. An der Vernunft hat jeder Anteil als Abbild des vernünftigen Gottes.

Den Gebrauch der Vernunft übt jeder im schmalen Umkreis seiner Tätigkeiten, um seinen Verpflichtungen an dem Platz in der allgemeinen Ordnung gerecht zu werden, den er einnimmt und der ihn zu seinem tätigen Wirken auffordert. Verhalten sich alle so, dann klärt sich die Verworrenheit zur Einigkeit der vielen Bestrebungen, die sich in ihrer Mannigfaltigkeit ergänzen und es jedem erlauben, seines Glückes Schmied zu sein.

Wer sein eigener Herr sein soll und kann, frei von Narretei und Unvernunft, der füge sich nicht aus Bequemlichkeit in den Willen eines anderen. Zur Freiheit ist jeder berufen, da die göttliche Wahrheit und die göttliche Vernunft befreien und widerstandsfähig machen gegenüber trügerischen Führern, die als Verführer und damit als Narren die vernünftigen Freien bevormunden und sich gefügig machen wollen. Sie reden vom Leben, das lange dauern möge, damit es als gelungenes gelten könne.

Der vernünftig Gewordene läßt sich von solchen Narreteien allerdings nicht betören. Er weiß, daß hier alles vergänglich ist und der Tod, der große Gleichmacher, keinen vergißt. Diese Erkenntnis bewahrt vor Einbildungen vom freiesten Staat in der besten aller Welten und dem glücklich erreichten Ende Geschichte. Wenn Bürger den Tod nicht fürchten, vernünftig leben und das Rechte bedenken, dann läßt sich einiges heilen und bessern im Römischen Reich und dessen Untergang verzögern. Alle Politik und Staatskunst bleibt nur Stückwerk mit einem gewissen Verfallsdatum. Mehr ist nicht zu erwarten, und wer anderes sagt, hält die anderen zum Narren.

Foto: Hieronymus Bosch, Das Narrenschiff (Ausschnitt), Öl auf Holz: Den Nerv der Zeitgenossen getroffen