© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/21 / 07. Mai 2021

Der politische Moralismus in der Klima- und Energiepolitik
Hauptsache, gut gemeint?
Fritz Söllner

Hermann Lübbe, der lange Jahre in Zürich Philosophie gelehrt hat, hat schon 1984 vor einer zunehmenden „Neigung, auf die Herausforderungen von Gegenwarts­problemen moralisierend zu reagieren“, gewarnt. Diese Warnung ist heute aktueller denn je. Denn der gesellschaftliche Diskurs wird in vielen Politikbereichen von einem politischen Moralismus geprägt, der eine unvoreingenommene, kritische und sachlich geführte Diskussion behindert beziehungsweise unmöglich macht. Dies wird ganz besonders in der Klima- und Energiepolitik sichtbar.  Erst vergangene Woche hat sich gezeigt, daß nicht nur von seiten der Politik und der „Aktivisten“ moralisch argumentiert wird, sondern auch von seiten der Justiz. Der am 29. April veröffentlichte Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz ist ein Paradebeispiel für den politischen Moralismus – mißachtet er doch sowohl naturwissenschaftliche Grenzen als auch ökonomische Sachzwänge zugunsten einer Verabsolutierung und moralischen Überhöhung des Ziels der Klimaneutralität.

Als Ursache für die Klimakrise wird in der öffentlichen Diskussion häufig die niedrige Gesinnung vieler Menschen genannt. Das Klima werde destabilisiert, weil böswillige und rücksichtslose Menschen das Klima absichtlich gefährden, um ihre egoistischen Ziele zu verfolgen. Die Aussage, daß der Klimawandel „menschengemacht“ sei, und die zumindest zum Teil auch zutrifft, wird weitergehend interpretiert und in dem Sinn gebraucht, daß der Klimawandel das Produkt absichtlichen Handelns sei.

Negative Zivilisationsfolgen, wie etwa die Gefährdung des Klimas, haben jedoch in der heutigen Welt „überwiegend die handlungstheoretische Charakteristik von Nebenfolgen“. Damit ist nicht gemeint, daß es sich um unwichtige oder vernachlässigbare Phänomene handelt, sondern daß dieselben nicht bewußt herbeigeführt wurden; vielmehr treten sie typischerweise als unbeabsichtigte Konsequenz der Verfolgung anderer, häufig allgemein akzeptierter Ziele auf. Die Chinesen bauen keine Kohlekraftwerke, um den Gehalt der Atmosphäre an Treibhausgasen zu erhöhen, sondern um ihre Wirtschaft verläßlich und günstig mit Energie zu versorgen.

Sowohl im Sinn des gesellschaftlichen Friedens als auch der Erarbeitung von Lösungen zur Bewältigung der „Nebenfolgen“ ist es wenig zielführend, mit moralischen Anklagen und mit Schuldzuweisungen zu arbeiten. Statt dessen ist es notwendig, die Komplexität der modernen, arbeitsteiligen und ausdifferenzierten Gesellschaft und die vielfältigen Interdependenzen zwischen dieser und ihrer natürlichen Umwelt anzuerkennen.

Wenn man die Ursache der Klimakrise in einer „klimaschädlichen“ Gesinnung sieht, dann ist es mehr als naheliegend, die moralische Integrität und den guten Willen der so Gesinnten zu bezweifeln. Deshalb verdienen es deren Ansichten und Argumente nicht, angehört und diskutiert zu werden, sondern diese müssen unterdrückt und unschädlich gemacht werden. Es ist daher gängige Praxis, daß kritische Stimmen zur Energie- und Klimapolitik mit Vorwürfen zum Schweigen gebracht werden sollen, die von „Klimaleugner“ bis hin zu „Klimaverbrecher“ reichen. Nicht die argumentative Entgegnung in der klimapolitischen Diskussion wird beabsichtigt, sondern die Diskreditierung und moralische Entwertung der Andersdenkenden. Auf diese Weise wird mittels Emotionalisierung, Moralisierung und „Personalisierung“ der öffentlichen Debatte eine vernünftige und sachliche Diskussion unmöglich gemacht.

Zu einem wesentlichen Teil mitverantwortlich für die Art und Weise, wie in Deutschland über die Energie- und Klimapolitik diskutiert wird, ist die Berichterstattung in den Medien. Denn diese beschäftigt sich häufig weniger mit der Aufarbeitung und Darstellung des komplexen Sachzusammenhangs und aktueller Forschungsergebnisse, sondern konzentriert sich vor allem auf die Skandalisierung der Folgen der Erderwärmung und auf die emotionale beziehungsweise emphatische Darstellung von Einzelschicksalen. Die Klimadebatte in Deutschland ist daher weniger geprägt von fundiert recherchierten Fakten und ausgewogener Berichterstattung als vielmehr von der politisch-wohlmeinenden Gesinnung der Journalisten und der Moralisierung der Berichterstattung.

Der Klimaschutz wird heutzutage zur alles entscheidenden „Überlebensfrage der Menschheit“ hochstilisiert. Kompromisse mit anderen gesellschaftlichen Zielen müssen und dürfen bei einer Verabsolutierung des Klimazieles nicht gemacht werden.

Der Klimaschutz wird heutzutage zur alles entscheidenden „Überlebensfrage der Menschheit“ stilisiert und von vielen als das höchste, wichtigste und dringlichste gesellschaftliche Ziel betrachtet. Kompromisse mit anderen gesellschaftlichen Zielen müssen und dürfen bei einer Verabsolutierung des Klimazieles nicht gemacht werden. Und natürlich sind alle Mittel und Instrumente recht und billig, um dieses Ziel zu erreichen – seien es auch Verstöße gegen bestehendes Recht und Gesetz. Das Bewußtsein für die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit ist nicht nur bei den Klimaaktivisten schwach ausgeprägt, sondern auch – erschreckenderweise – in der Politik.

So hat es Bundeskanzlerin Merkel bei dem überhasteten Atomausstieg mit Recht und Gesetz nicht so ganz ernst genommen. Aber dies scheint nur ein Symptom einer zunehmend nonchalanten Einstellung vieler Politiker zum Prinzip der Rechtsstaatlichkeit zu sein. So hat sich etwa Merkel 2018 dahingehend geäußert, daß die Bundesregierung Recht und Gesetz, „wo immer das notwendig ist“ (!), einhalten wolle (Merkel auf der Sommerpressekonferenz am 20. Juli 2018) – eine Äußerung, die Bände spricht.

Es ist alarmierend, daß der Bruch grund- und einfachgesetzlicher Rechtspositionen durch die Regierung und die Geringschätzung des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit durch die Kanzlerin nur wenig Beachtung in der Öffentlichkeit hervorgerufen haben. Im Gegenteil: Es hat der Beliebtheit von Merkel und ihrer Politik in weiten Teilen der Bevölkerung kaum geschadet. Das klimapolitische Ziel moralisch stets vor Augen, scheint es, daß sich die politischen Vertreter nicht um die Beachtung des Rechtsstaates kümmern müssen, sondern dieser – fast schon als lästig anzusehenden – Pflicht entrückt sind.

Wenn die Klimakrise auf die Unmoral von großen Teilen der Bevölkerung zurückgeführt wird, dann muß man natürlich versuchen, eine „gute“ Gesinnung zu bewirken. Man hört deshalb oft eindringliche Appelle, „zur Vernunft zu kommen“ und „umzukehren“. Allein, diese Appelle fruchten sehr wenig – was aus ökonomischer Sicht auch gar nicht anders zu erwarten ist.

Wenn die Menschen aber nicht freiwillig ihr Verhalten ändern, dann muß man sie eben mit Geboten und Verboten dazu zwingen – ein Ansatz, den man nicht nur in der Klimapolitik, sondern aktuell vor allem in der Coronapolitik mit ihren Ausgangsverboten, Testpflichten und Maskenzwängen beobachten kann. Da die Gutgesinnten und moralisch Hochstehenden sich natürlich auch gut und moralisch verhalten, stellt deren Verhalten den Maßstab dafür dar, was gutes und richtiges Verhalten ist – vollkommen unabhängig davon, welche Konsequenzen tatsächlich damit verbunden sind.

Denn vom Standpunkt des politischen Moralismus überträgt sich die Qualität des Handelnden zwangsläufig auf die Qualität der Handlungen. Gutgesinnte handeln immer gut, und Schlechtgesinnte handeln immer schlecht. Gutgesinnte fahren Rad oder Elektroauto, verwenden Energiesparleuchten, leben vegetarisch oder vegan und installieren Photovoltaikanlagen auf den Dächern ihrer Häuser.

Allen anderen, die dies nicht freiwillig und aus besserer Einsicht tun, müssen zu einem solchen Verhalten auf die eine oder andere Weise gezwungen werden: Autos mit Verbrennungsmotor werden einerseits durch die massive Subventionierung der Elektromobilität, andererseits durch immer restriktivere Emissionsvorgaben und sogar Fahrverbote „ausgebremst“; Glühlampen werden verboten; es gibt Vorschläge, den Fleischkonsum durch Sondersteuern zu reduzieren; Photovoltaikanlagen werden nicht nur stark subventioniert, sondern in Kürze den Bauherren sogar vorgeschrieben. Für eine nüchterne und sachliche Abwägung von Handlungsalternativen bleibt dabei kein Raum. Kohle- und Kernenergie haben nicht jeweils Vor- und Nachteile, die es abzuwägen gilt, sondern sind Teufelswerk und müssen baldmöglichst abgeschafft werden.

Photovoltaikanlagen und Windräder dürfen hinsichtlich ihrer Kosten und Nutzen nicht mit anderen Arten der Energieerzeugung verglichen werden, sondern stellen den energie- und klimapolitischen Heilsweg dar, an dem kein Zweifel erlaubt ist. Allerdings erweisen sich viele energie- und klimapolitische Vorhaben als reines Wunschdenken und als Illusion, wenn sie mit den harten Tatsachen der ökonomischen und naturwissenschaftlichen Realität konfrontiert werden.

Denn diese Klima- und Energiepolitik ist mit hohen gesellschaftlichen Kosten und Ineffizienzen verbunden – die man vermeiden könnte durch eine sinnvolle Gestaltung des ordnungsrechtlichen Rahmens und die Setzung geeigneter ökonomischer Anreize. Aber eine solche indirekte Politik über Anreize – wie sie insbesondere eine allgemeine CO2-Steuer darstellen würde – kommt für politische Moralisten nicht in Frage.

Erstens würde eine Anreizpolitik ihrem dualistischen Gut-Böse-Weltbild widersprechen, da ja zum Beispiel eine allgemeine CO2-Steuer grundsätzlich alle Menschen betreffen und insofern kein Unterschied gemacht werden würde zwischen den „Guten“ und den „Bösen“. Zweitens wären dann „unmoralische“ Handlungen weiterhin prinzipiell erlaubt: Man könnte weiterhin PS-starke Autos mit Verbrennungsmotor fahren und könnte weiterhin sein Eigenheim mit Öl beheizen.

Es ist klimapolitisch sinnlos, wenn sich einzelne Länder Emissionsreduktionsziele setzen. Angesichts ihrer geringen Anteile an den weltweiten Treib­hausgas-Emissionen kann die EU unmöglich für eine spürbare Reduktion der Gesamtemissionen sorgen.

Diese sündhaften Aktivitäten wären nicht verboten, sondern würden „nur“ verteuert werden. Ja, mehr noch, es bestünde sogar die Gefahr, daß sich „gute“ Technologien, wie zum Beispiel die Elektromobilität oder die Photovoltaik, nicht durchsetzen, sondern sich als das erweisen würden, was sie sind: wirtschafts-, energie- und klimapolitische Irrwege.

Das Klimaproblem stellt sich aus ökonomischer Sicht wie folgt dar: Die Emission von Treibhausgasen, unter denen CO2 die größte Rolle spielt, erhöht die Konzentration dieser Gase in der Atmosphäre und trägt so zur Destabilisierung des Klimas bei. Da die damit einhergehenden Kosten nicht von den Emittenten getragen werden, haben diese keinen Anreiz zur Emissionsvermeidung. Eine rationale Klimapolitik kann folglich nur darin bestehen, einen Preis für die Treibhausgasemissionen einzuführen – entweder durch eine Emissionssteuer oder ein Emissionsrechtehandelssystem.

Ein solcher Preis würde dazu führen, daß Prozesse und Güter im Verhältnis ihrer Emissionsintensität verteuert werden und deshalb versucht werden würde, neue, klimafreundlichere und damit kostengünstigere Technologien einzuführen. Der Preis würde einen Anreiz für Unternehmer und Konsumenten schaffen, nach den günstigsten Vermeidungsmöglichkeiten zu suchen. Da das Klimaproblem ein globales Umweltproblem ist, muß dieser Preis weltweit einheitlich sein. Nur so können die Emissionen effektiv und effizient reduziert werden.

Klimapolitisch sinnlos ist dagegen, wenn sich einzelne Länder Emissionsreduktionsziele setzen. Angesichts ihrer relativ geringen Anteile an den weltweiten Emissionen von Treibhausgasen – 2017 hatte die EU einen Anteil von 9,2 Prozent, Deutschland von 1,9 Prozent – können die EU oder gar Deutschland allein unmöglich für eine spürbare Reduktion der Gesamtemissionen und damit für eine Stabilisierung des Weltklimas sorgen. Solange es keine international koordinierte Klimapolitik gibt – und das Pariser Klimaschutzabkommen stellt keine solche dar! –, sollten deshalb knappe Ressourcen in die Adaption an den Klimawandel investiert werden (zum Beispiel in die Verstärkung der Nordseedeiche oder den Waldumbau), anstatt diese für wirkungslose Reduktionsanstrengungen zu verschwenden. Die Klimapolitik in Deutschland und Europa ist nicht nur ineffektiv, weil sie so gut wie keine Auswirkungen auf das Klima hat; sie ist auch ineffizient, weil sie höhere volkswirtschaftliche Kosten als nötig verursacht. Mit anderen Worten: Die Emissionsreduktion ist nicht nur wirkungslos, sie ist auch teurer als notwendig.

Besonders die deutsche Klimapolitik zeichnet sich durch enorme Ineffizienzen aus. Dies gilt vor allem für das im Jahr 2000 eingeführte Erneuerbare-Energien-Gesetz, das den Ausbau erneuerbarer Energien bei der Stromerzeugung fördert. Innerhalb des übergreifenden EU-Emissionshandelssystems führt es jedoch nicht zur Verringerung der Treibhausgasemissionen, sondern nur zu einer Verlagerung in andere Länder. Der Kohleausstiegsbeschluß, die massive Förderung der Elektromobilität und das „Klimapaket 2030“ setzen den Irrweg der deutschen Klimapolitik fort. In eine ähnliche Richtung scheint auch der „Green Deal“ der EU zu gehen; auch bei ihm geht es mehr um die gute Absicht als um eine rationale Politik.

Ursächlich für diese Misere ist nicht etwa mangelndes Wissen um eine bessere Klimapolitik, sondern die bewußte Verweigerung einer rationalen Analyse des Klimaproblems und seiner möglichen Lösungen zugunsten einer emotionalen und gesinnungsbasierten Politik – ursächlich ist der politische Moralismus.






Prof. Dr. Fritz Söllner, Jahrgang 1963, ist Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre an der TU Ilmenau. Zuvor lehrte er an der Universität Bayreuth und war John F. Kennedy-Fellow in Harvard. Seine Schwerpunkte sind Migrations-, Klima- und Energiepolitik. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Migrationspolitik des Großen Kurfürsten gegenüber den Hugenotten („Die besten Deutschen“, JF 2/21).

Foto: Unter der Käseglocke aus Sicherheitsglas: Am Panzer des politischen Moralismus prallen auch sachliche Argumente und rationale Analysen ab