© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/21 / 07. Mai 2021

Sehnsucht nach den blauen Gipfeln der Vogesen
Vor 150 Jahren beendete der Frieden von Frankfurt den Deutsch-Französischen Krieg / Die Abtretung Elsaß-Lothringens an das Deutsche Reich vergiftete das bilaterale Verhältnis nachhaltig
Karlheinz Weißmann

Am 6. Mai 1871 erreichte die französische Delegation Frankfurt am Main. Ihr gehörten der Außenminister Jules Favre, der Finanzminister Augustin Pouyer-Quertier sowie ein Abgeordneter der Nationalversammlung, Marc Thomas de Goulard, an. Die Verhandlungen mit Bismarck als Reichskanzler gingen zügig voran, schon am 10. Mai wurde der Vertrag unterzeichnet, der den Deutsch-Französischen Krieg beendete. 

Der Frankfurter Frieden regelte in nur achtzehn Artikeln und drei Zusatzartikeln Verwaltungs-, Kirchen- und Wirtschaftsfragen, Wiedergutmachungsleistungen, die die französische Seite deutschen Bürgern zu leisten hatte, den Austausch der Kriegsgefangenen, die zeitweise Besetzung französischer Landesteile durch deutsche Truppen, die Reparationen sowie die Abtretung des Elsaß, zusammen mit Teilen Nord-Lothringens.

Während die Kontribution in Höhe von fünf Milliarden Goldfrancs bereits nach gut zwei Jahren bezahlt war, sollte sich die Annexion als dauerhafte Belastung der deutsch-französischen Beziehungen erweisen. Zwar stimmte eine überwältigende Mehrheit des französischen Parlaments dem Vertrag von Frankfurt zu. Aber es gab von Anfang an auch entschiedene Gegner des „Schandfriedens“. Die kamen zum einen aus den Reihen jener Abgeordneten, die Bezirke des Elsaß und Lothringens vertraten, zum anderen aus dem Lager der nationalistischen Linken. 

Zu ihnen gehörte Léon Gambetta, der erste Innenminister der neuen Republik, der noch versucht hatte, einen Volkssturm zu organisieren, damit der Krieg fortgesetzt werden konnte. Nach seinem Scheitern gab er die Parole aus „Immer daran denken, niemals davon reden“. Allerdings redete man in den Reihen der „Revanchisten“ über kaum etwas so oft wie über die Notwendigkeit eines Rachekrieges gegen Deutschland und die folgende „Wiedervereinigung“ mit den verlorenen Provinzen. Nach Gambettas Tod im Jahr 1882 wurde Georges Clemenceau Sprecher dieser Fraktion, die jede Regierung zu stürzen suchte, die die „blauen Gipfel der Vogesen“ aus dem Blick verlor.

Bismarck war sich der Tatsache wohl bewußt, daß es im Hinblick auf die französischen Ostgebiete nicht nur um territoriale Aspekte ging, sondern auch um das politische Selbstverständnis des Nachbarn, vor allem das, was der Begriff „Richelieus Testament“ zusammenfaßte. Gemeint war damit das – von der jeweiligen Verfassung ganz unabhängige – Bestreben Frankreichs, seine „natürlichen Grenzen“ (Pyrenäen, Atlantik, Kanal, Rhein, Alpen, Mittelmeer) zu erreichen und zugleich seine Vormachtstellung auf dem Kontinent zu sichern. Diese im Grunde schon seit dem Untergang der Staufer verfolgte Linie hatte dazu geführt, daß Frankreich immer stärker auf den Westen des Reiches ausgriff und ihn stückweise unter seine Kontrolle zu bringen suchte. Erfolgreich waren die Vorstöße vor allem im Hinblick auf das Elsaß, das nach dem Wiener Kongreß endgültig ein Teil Frankreichs geworden zu sein schien.

Zeitgleich mit den folgenden Bemühungen um vollständige politische Eingliederung verlief ein Prozeß der Assimilation, der von der Pariser Zentrale mit einer geschickten Mischung aus Lockung und Zwang vorangetrieben wurde. Die Sprachgrenze verschob sich so im 19. Jahrhundert nach und nach zugunsten des Französischen und zuungunsten des Deutschen. Ein Vorgang, den die Bevölkerung mehr oder weniger passiv hinnahm. Der Versuch, die eigene kulturelle Identität zu verteidigen und gleichzeitig politisch loyal zu bleiben – „Wir trennen uns nicht. Aber von deutschem Sinn und deutscher Art lassen wir nicht“, schrieb 1840 der Straßburger Theologe Eduard Reuß – war die Ausnahme, nicht die Regel.

Bismarck wollte schon 1848 das Elsaß für Deutschland

Kaum überraschend deshalb, daß die Revolution von 1848 im Elsaß nur als französisches Ereignis Widerhall fand. Den Impuls, der in Luxemburg und sogar im niederländischen Limburg dazu führte, die Angliederung an ein zukünftiges deutsches Reich zu fordern, gab es hier nicht. Bezeichnenderweise spielte die Westgrenze auch für die Beratungen der Paulskirche kaum eine Rolle. Zu den wenigen, die die Aufmerksamkeit auf diesen Aspekt zu lenken suchten, gehörte Bismarck. In einem Brief an die Magdeburger Zeitung schrieb er im Revolutionsjahr: „Ich hätte es erklärlich gefunden, wenn der erste Aufschwung deutscher Kraft und Einheit sich damit Luft gemacht hätte, Frankreich das Elsaß abzufordern und die deutsche Fahne auf den Dom von Straßburg zu pflanzen.“ Es deutete sich hier schon an, daß für Bismarck in diesem Zusammenhang nicht nur macht- oder militärpolitische Gesichtspunkte, sondern auch ein besonders gefärbtes Nationalbewußtsein ausschlaggebend waren. Ein Zusammenspiel, das ganz ähnlich sein Vorgehen bestimmen sollte, nachdem er an die Spitze der preußischen Regierung trat und die Lösung der „Deutschen Frage“ in Angriff nahm.

Dem stand aber nicht nur der Anspruch Österreichs auf die deutsche Führung entgegen, sondern auch das stete Mißtrauen Frankreichs, das seine Stellung durch eine neue Großmacht im zentraleuropäischen Raum gefährdet sehen mußte. In einem Geheimvertrag mit Österreich vom 12. Juni 1866 setzte Frankreich deshalb fest, daß für den Fall eines österreichischen Sieges über Preußen kein deutscher Einheitsstaat entstehen dürfe; gleichzeitig wurde in Paris die Schaffung eines Klientelstaates sondiert, der die „rheinischen Provinzen“ umfassen und als eine Art Puffer oder Kern eines neuen „Rheinbundes“ dienen sollte. Entsprechende Pläne waren auch nach der Niederlage Österreichs gegen Preußen nicht erledigt. Sie erklären die Strategie Napoleons III. während der Luxemburg-Krise von 1867, die darauf abzielte, Luxemburg durch Kauf Frankreich einzugliedern. Daß der Vorstoß scheiterte, hat die chauvinistische Stimmung in Frankreich noch angeheizt und im Zusammenhang des Kriegsausbruchs 1870 die Vorstellung wiederbelebt, das Land müsse „seinen Hof abrunden“ (Vauban zu Ludwig XIV.) und der „Friede Europas“ sei nur bei dauerhafter Zersplitterung Deutschlands gewährleistet.

Das Wissen um diese Faktoren erklärt hinreichend den Wortlaut des Erlasses, der am 16. September 1870 von Bismarck an die preußischen Gesandten ging: „Unsere Friedensbedingungen sind ganz unabhängig von der Frage, wie und von wem die französische Nation regiert wird, sie sind uns durch die Natur der Dinge und das Gesetz der Notwehr gegen ein gewalttätiges und friedloses Nachbarvolk vorgeschrieben. Die einmütige Stimme der deutschen Regierungen und des deutschen Volkes verlangt, daß Deutschland gegen die Bedrohungen und Vergewaltigungen, welche von allen französischen Regierungen seit Jahrhunderten gegen uns geübt wurden, durch bessere Grenzen geschützt werden.“ 

Zu Recht nahm Bismarck in diesem Zusammenhang auf die „einmütige Stimme … des deutschen Volkes“ Bezug. Denn seit Kriegsbeginn war die Forderung nach „Rückgabe“ Elsaß-Lothringens in der Öffentlichkeit immer lauter geworden. Das galt vor allem für die Liberalen und die von ihnen beherrschte Presse, aber auch für die Bewohner der süddeutschen Gebiete, zu deren Kollektiverinnerung die wiederkehrenden Einfälle französischer Truppen gehörten, gegen die man einen Schutz zu gewinnen hoffte.

Ein gewisses Mißtrauen gegen die neuen Mitbürger

Solche Aspekte waren für Bismarck im Hinblick auf Elsaß-Lothringen aber zweitrangig. Das ließ sich schon daran erkennen, daß er die von seiten des Generalstabs geforderte Einbeziehung Belforts relativ rasch aufgab, um der französischen Seite seine Konzessionsbereitschaft zu signalisieren. Auch „völkische“ Gesichtspunkte spielten keine Rolle. Das erklärt die – von Bismarck allerdings mit Unbehagen hingenommene – Mißachtung der Sprachgrenze einerseits, die Großzügigkeit der Optionsregelung des Frankfurter Friedens andererseits, die jedem, der sich für Frankreich entschied, nicht nur diese Wahlmöglichkeit eröffnete, sondern auch das Eigentum garantierte. 

Ausschlaggebend war in dem Zusammenhang, daß nicht einmal die wildesten deutschen Patrioten glaubten, es gebe im Elsaß oder dem nördlichen Lothringen etwas wie eine Irredenta. Eher nahm man das Gegenteil an. Zu den Folgen gehörte ein gewisses Mißtrauen gegenüber den neuen Mitbürgern, das auch darin zum Ausdruck kam, daß das „Reichsland Elsaß-Lothringen“ einen Sonderstatus erhielt. Tatsächlich dauerte es bis 1911, bevor ein Autonomiestatut erlassen wurde. Trotzdem bleibt festzuhalten, daß die Zahl derer, die nach 1871 eine Rückkehr zu Frankreich wünschte, ausgesprochen klein war. Bei der Reichstagswahl von 1912, der letzten vor Ausbruch des Weltkriegs, erreichte das „französische Lager“ gerade 3,2 Prozent der Stimmen. Bei Kriegsausbruch wurde die Bevölkerung Elsaß-Lothringens von derselben nationalen Begeisterung erfaßt, die in den übrigen Teilen des Reiches zu spüren war.

Damit war es angesichts von Niederlage und Zusammenbruch 1918 vorbei. In der deutschen Führung wußte man sehr genau, daß der Krieg auch um den Besitz von Elsaß-Lothringen geführt worden war. Noch bevor es zum Friedensschluß kam, der die Angelegenheit endgültig regeln sollte, besetzten französische Truppen die „heimgekehrten“ Gebiete. Clemenceau, das Haupt der revanchards, nun Regierungschef, durfte sich am Ziel sehen.

Foto: Vogesen im Morgendunst; provisorisches Denkmal für den Einzug der siegreichen Truppen in Berlin 1871 mit Germania, die ihre verlorenen Töchter Elsaß und Lothringen empfängt: Die Annexion von Elsaß-Lothringen berührte das politische Selbstverständnis des Nachbarn, vor allem das, was der Begriff „Richelieus Testament“ zusammenfaßte