© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/21 / 07. Mai 2021

Die mythische Aura des Unbeugsamen
Vor 75 Jahren wurde Kurt Schumacher zum SPD-Vorsitzenden gewählt / Klares Bekenntnis gegen eine Annäherung an die Kommunisten
Michael Dienstbier

Mit Kurt Schumacher wählte die gerade wiedergegründete SPD am 10. Mai 1946 einen Mann zu ihrem Vorsitzenden, den sie heute für seine Überzeugungen aus der Partei ausschließen würde. Sein Führungsstil war autoritär, und er bestand auf dem Fraktionszwang. Legende geworden ist seine Kategorisierung der Kommunisten als „rotlackierte Faschisten“. Bezugsgröße seines politischen Handelns blieb immer das deutsche Volk in seinen ihm angestammten Grenzen, also inklusive der ostdeutschen Provinzen. Er setzte sich für die Rehabilitierung ehemaliger Wehrmachtssoldaten und Mitglieder der Waffen-SS ein, sofern man dem einzelnen keine direkte Beteiligung an Verbrechen nachweisen konnte. Im August 1945 formulierte Schumacher in den „Politischen Richtlinien der SPD im Verhältnis zu anderen politischen Faktoren“ in aller Deutlichkeit: „Das deutsche Volk kann und darf nicht darauf verzichten, sein Reich (…) als nationales und staatliches Ganzes zu behaupten.“ 

Heute kommen die Worte „Volk“ und erst recht „Reich“ keinem SPD-Funktionär mehr über die Lippen. Im Juni 2020 solidarisierte sich die amtierende Parteivorsitzende Saskia Esken via Twitter mit den Worten „58 und Antifa. Selbstverständlich“ mit dem linksextremen Schlägertrupp, wobei die Zahl für ihr Alter steht. Das Gedankengut der „rotlackierten Faschisten“ hat heute seinen festen Platz im Willy-Brandt-Haus.

Während der NS-Zeit war er zehn Jahre KZ-Häftling

Der 1895 im westpreußischen Kulm an der Weichsel geborene Schumacher konnte nach dem Zweiten Weltkrieg zur unangefochtenen Führungsfigur der Sozialdemokratie werden, da ihm sein Lebensweg eine nahezu mythische Aura des unbeugsamen Widerstandskämpfers verlieh, der immer bereit war, für seine Überzeugungen das eigene Leben einzusetzen. Als junger Mann meldete er sich freiwillig zum Dienst im Ersten Weltkrieg, in dem er seinen rechten Arm verlor. 1918 in die SPD eingetreten, wurde er 1924 Landtagsabgeordneter in Württemberg und 1930 in den Reichstag gewählt. Bereits hier bezeichnete er die KPD als „rotlackierte Doppelausgabe der Nationalsozialisten“. Der gesamten Linken warf er vor, durch die Vernachlässigung der nationalen Frage die Menschen in die Arme der Konservativen und Hitlers zu treiben. Er gehörte zu den wenigen, die mit Otto Wels gemeinsam an dessen Rede zur Ablehnung des sogenannten Ermächtigungsgesetzes schrieben, die der damalige SPD-Vorsitzende am 23. März 1933 im Reichstag hielt, in dem die SA schon zur Abrechnung bereit stand. Dieser Moment – eine Sternstunde in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Von den kommenden zwölf Jahren verbrachte Schumacher knapp zehn in KZ-Haft. Kontakte zu kommunistischen Mitgefangenen lehnte der in verschiedenen Konzentrationslagern Geschundene, dem 1948 aufgrund der erlittenen Strapazen auch noch ein Bein amputiert werden mußte, strikt ab.

Bei Kriegsende hielt sich Schumacher in Hannover auf und gründete unmittelbar nach dem Einmarsch alliierter Truppen das „Büro Dr. Schumacher“ als inoffizielle Parteizentrale zu einer Zeit, als die Siegermächte die Bildung politischer Parteien noch verboten. Mit der offiziellen Wiedergründung der SPD auf der Wennigser Konferenz vor den Toren Hannovers im Oktober 1945 war auch eine zentrale Richtungsentscheidung verbunden. Bei dem Treffen anwesend waren Vertreter aus allen vier Besatzungszonen. 

Gegenspieler Schumachers war Otto Grotewohl, Mitgründer der Berliner SPD, der für eine enge Kooperation mit der KPD eintrat. Schumachers antikommunistischer Kurs setzte sich durch, und er wurde offiziell mit dem Wiederaufbau der SPD in den Westzonen beauftragt. Im April 1946 zeigt sich, daß Schumachers Mißtrauen Grotewohl gegenüber gerechtfertigt war. Die Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED vollzog sich mit dessen aktiver Unterstützung. Tausende SPD-Unterstützer wurden in den ehemaligen Lagern der Nationalsozialisten interniert und Grotewohl 1949 mit dem Posten des Ministerpräsidenten der DDR belohnt. Die deutliche Wahl des Kommunistenhassers Schumacher zum Vorsitzenden nur vier Wochen später – er erhielt 244 von 245 Stimmen – erklärt sich auch mit dem Entsetzen der West-SPD über die Vorgänge im Osten.

Westbindung als Verrat der Wiedervereinigungspolitik

Seine klaren Positionen, gezeichnet von Patriotismus, öffneten der SPD auch Wähler, die ihr bisher verschlossen gewesen waren. Dennoch gewann entgegen vielen Umfragen die CDU die ersten Bundestagswahlen im August 1949, so daß Schumacher nicht erster Bundeskanzler, sondern lediglich erster Oppositionsführer der Bundesrepublik wurde. Als solcher bekämpfte er die Adenauersche Politik der Westbindung, die er als Verrat an den Deutschen in der DDR brandmarkte, da sie auf Kosten einer möglichst baldigen Wiedervereinigung geschehe. Auch ideologische Vorbehalte spielten hier eine Rolle – ein Freund der kapitalistischen Supermacht USA war er trotz seines ausgeprägten Antikommunismus nie. Kurt Schumacher starb 1952 infolge eines Schlaganfalls. Sein politisches Erbe pflegte lange Zeit die Kriegerwitwe Annemarie Renger, ab 1945 seine enge Vertraute und Lebensgefährtin, die von 1972 bis 1990 im Bundestagspräsidium in Bonn wirkte. 

Kurt Schumacher polarisierte, rief Ablehnung und Begeisterung gleichermaßen hervor. In seinen rhetorisch brillanten Reden spürt man heute noch das Sendungsbewußtsein und die Bedingungslosigkeit eines Mannes, für den Lebensgefahr ein langjähriger Begleiter war. Ein Gefühl der Wehmut breitet sich aus, vergleicht man Schumacher mit dem heutigen politischen Personal, das jedes Wort von der hauseigenen Marketingabteilung absegnen oder politisch-korrekten Vorgaben bestimmen läßt.