© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/21 / 07. Mai 2021

Das Beste für ihr Volk getan
Rechtzeitig zu ihrem 100. Geburtstag legt Robert Zoske eine neue Biographie über Sophie Scholl vor
Herbert Ammon

Folgende Worte Sophie Scholls, festgehalten im Vernehmungsprotokoll der Gestapo vom 20. Februar 1943, stehen am Anfang der Biographie aus der Feder des Theologen und „Weiße Rose“-Spezialisten Robert M. Zoske: „Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte. Ich bereue deshalb meine Handlungsweise nicht und will die Folgen, die aus meiner Handlungsweise erwachsen, auf mich nehmen.“ Gemäß den Begriffen politisch korrekter Bildung klingt dieser erste Satz der vor hundert Jahren am 9. Mai 1921 in Forchtenberg (Württemberg) geborenen Sophie Scholl verdächtig „völkisch“.  

Zu den Positiva des Buches gehören Details zur Funktionsweise des „Dritten Reiches“. Noch ehe Hitler in jenen Tagen im Führerhauptquartier in Winniza von Himmler über den „Studentenwirbel“ in München informiert war, hatte OKW-Chef Keitel bereits Hans Scholl und Christoph Probst aus der Wehrmacht ausgestoßen und sie damit der Wehrgerichtsbarkeit entzogen. Selten genannt werden Namen der anderen unter Roland Freisler fungierenden Männer am „Volksgerichtshof“, der am Montag, dem 22. Februar 1943, das – Stunden später in München-Stadelheim exekutierte – Todesurteil gegen die Geschwister und Christl Probst verhängte. 

Die Anklageschrift hatte in Tag- und Nachtschicht der Reichsanwalt Albert Weyersberg ausgearbeitet. Weyersberg, der Herkunft nach rheinischer Katholik, trat in die NSDAP am 1. Mai 1933 ein. Anfang April 1936 avancierte er als Oberstaatsanwalt an den Volksgerichtshof. Nach seinem Auftritt gegen die Scholl-Geschwister führte er auch die Anklage gegen vier Lübecker Geistliche sowie im Oktober 1944 gegen Hans Leipelt, der den Widerstand der „Weißen Rose“ fortgesetzt hatte. Leipelt wurde am 29. Januar 1945 hingerichtet.

Mutmaßunen über lesbische Liebe Sophie Scholls

Was die Rolle der Evangelischen Kirche in der NS-Zeit sowie die jahrelange HJ-Begeisterung der pietistisch erzogenen Scholl-Geschwister betrifft, so rückt die Persönlichkeit des Ulmer Stadtpfarrers Gustav Oehler ins Bild. Der Weltkriegsteilnehmer feierte öffentlich die „nationale Erhebung“ und leitete HJ-Gottesdienste, trat aber „unmißverständlich“ antisemitischen Diffamierungen entgegen. Am 22. April 1934 trat er zusammen mit den Landesbischöfen Theophil Wurm und Hans Meiser bei einem als Absage an die „Deutschen Christen“ inszenierten Gottesdienst auf dem Ulmer Münsterplatz auf. Von ihm wurden an Palmarum 1937 in der Ulmer Garnisonkirche auch Sophie und der jüngere Bruder Werner in HJ- bzw. BDM-Uniform konfirmiert.

Um die „Weiße Rose“ ranken sich seit den 1950er Jahren, als die älteste Schwester Inge Scholl ihr mit Fehlinformationen behaftetes Buch veröffentlichte, allerlei Legenden. Im Zuge feministischer Geschichtsdeutung wurde Sophie Scholl ins Zentrum des Gedenkens gerückt, so bereits 2003 mit der Aufstellung einer Büste in der Walhalla bei Regensburg. Zitatwürdig ist eine Fehlleistung des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der 2019 anläßlich einer Gedenkfeier zum 20. Juli an das „Schicksal der Gruppe um Sophie Scholl“ erinnerte. Die treibende Kraft der „Weißen Rose“ war von Anbeginn Hans Scholl, noch ehe er im Juli 1942 zusammen mit Alexander Schmorell mit Flugblättern zum aktiven Widerstand überging.

Ab wann die Geschwister sich vom Regime distanzierten, ist nicht ganz eindeutig. Zoske verlegt Sophies Abkehr erst in das Jahr 1941. Nach wie vor überzeugend scheint das Jahr 1937/38, als die Geschwister Inge, Werner und Hans sowie Inges homosexueller Freund Ernst Reden wegen „bündischer Umtriebe“ erstmals mit Polizei und Justiz in Konflikt gerieten. Auch Susanne Hirzel schrieb in einem Brief an Ricarda Huch (14. August 1946), ihre Freundin Sophie sei sich bereits „mit ungefähr sechzehn Jahren klar [geworden] in der Ablehnung des Nat.soz.“ 

Die Biographie folgt dem Lebensweg Sophie Scholls in chronologischer Reihe: „Tochter“, „Hitlermädchen“, „Konfirmandin“ usw. Das mit 55 Seiten längste Kapitel („Geliebte“) ist der Liebesbeziehung Sophies zu dem vier Jahre älteren Berufsoffizier Fritz Hartnagel gewidmet. Die Verbundenheit der beiden gründete in tiefer Frömmigkeit. Indes empfand Sophie – „gemäß einer fatalen christlichen Tradition“ (Zoske) – das Verlangen nach sexueller Erfüllung als „Sünde“.

Daß die Beziehung nach dem Geständnis Hartnagels einer Affäre auf einer Dienstreise nicht ungetrübt war, ist unschwer zu verstehen. Den Brief der verletzten Sophie an Lisa Remppis, die Freundin seit Kindertagen, deutet Zoske sodann wie folgt: „Offenkundig ist, daß sie Lisa heiß und innig liebte – nicht Fritz Hartnagel.“ Bereits vorher deutet der Autor: „Sophie liebte Lisa und glühte für sie.“ Wenn Zoske Legenden um die „Ikone“ Sophie entmythologieren will, so folgt er selbst einem zeitgeistigen Erkenntnisinteresse – dem Nachweis der Bisexualität bei Hans Scholl und der latenten Homosexualität bei Sophie („eine [verborgene] Sehnsucht nach gleichgeschlechtlicher Sexualität“).

Diese Überinterpretationen sowie historische Unschärfen sind des Buches mindere Schwächen. Störender wirkt die Neigung zu Mutmaßungen und Werturteilen. In der Pogromnacht 1938 suchte Vater Scholl eine jüdische Familie auf („Frau Einstein – ein Mensch kommt zu ihnen“). „Ob er wirklich damit auch die staatlichen Sanktionen ablehnte, ist fraglich.“ An Sophies Besuch der Hamburger Kunsthalle wird die Spekulation geknüpft, ob sie „vielleicht“ auch das Gemälde „Freiheit oder Tod“ von Jean-Baptiste Regnault betrachtet habe: „Das Bild appelliert, das Leben für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einzusetzen.“ Gemalt wurde das Bild 1794/95, als die Thermidorianer die jakobinische Praxis der Brüderlichkeit – gemäßigt im Umgang mit der Guillotine und radikal in der Vendée – fortsetzten. Der mit dem Motto „Allein in der Tat ist die Freiheit“ aufgerufene Dietrich Bonhoeffer erklärte die Französische Revolution als den Ursprung des braunen Jakobinertums. 

Robert M. Zoske: Sophie Scholl. Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen. Propyläen Verlag, Berlin 2020, gebunden, 448 Seiten, 24 Euro