© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/21 / 07. Mai 2021

Bisse von tollwütigen Wölfen
Der russische Corona-Impfstoff stößt im Westen auf Vorbehalte / Ungarn bestätigt gute Wirksamkeit
Thomas Fasbender

Es war ein taktischer Fehler des russischen Präsidenten Wladimir Putin, die Existenz eines Covid-19-Impfstoffs bereits im August 2020 bekanntzugeben – Monate vor Beginn der entscheidenden klinischen Studienphase III. In der Folge haftete dem Präparat Gam-Covid-Vac – unter dem Namen Sputnik V inzwischen millionenfach eingesetzt – das Odium des Überstürzten an, ein gefühltes Defizit an wissenschaftlicher Seriosität. Für die Gegner der russischen Politik war das ein gefundenes Fressen, doch auch die eigene Bevölkerung reagierte mit Vorbehalt.

Aus medizinhistorischer Perspektive bestätigt der frühe Erfolg eine lange Tradition. Am Anfang stand eine Zarin, die Anhaltiner Prinzessin Katharina II., später die Große genannt. 1768 läßt sie sich als erstes Staatsoberhaupt der Welt mit menschlichem Pockensekret infizieren. Die Pocken waren eine verheerende Krankheit; sie wüten unter dem Adel genauso wie im gemeinen Volk. Doch selbst die primitive, ohne Hygienekenntnis vollzogene Impfung jener Jahre senkt die Sterblichkeit von bis zu 40 auf unter zwei Prozent. Die Zarin prägt auch das seither gültige Attribut für Impfgegner: „Echte Idioten, ignorant oder einfach bösartig.“

Von Kinderlähmung bis zur Corona-Pandemie

Als Louis Pasteur 1885 die Tollwutimpfung erfindet, finanziert Zar Alexander III. das Institut des Franzosen mit 100.000 Franc und schickt Dutzende infizierter russischer Bauern nach Paris: Pasteur sei „schrecklich interessiert an den Bissen tollwütiger Wölfe, solche Patienten hat er noch nicht gehabt“. Die ersten Tollwut-Impfstationen außerhalb Frankreichs öffnen 1886 in Odessa und Moskau. 1912 gibt es in Rußland insgesamt 28 davon.

Nach der blutigen bolschewistischen Revolution stehen Themen wie Alphabetisierung und Volksgesundheit ganz vorne auf der sozialpolitischen Agenda. 1949 kommt es zu Polio-Epidemien im Baltikum, in Kasachstan und in Sibirien. Ungeachtet des Kalten Kriegs schickt die Staatsführung 1955 seine besten Virologen in die USA, wo man intensiv an einer Impfung gegen die Kinderlähmung arbeitet. Ein vielversprechender Impfstoff, den die Amerikaner eigentlich schon aufgegeben haben, wird danach in der Sowjetunion getestet und sofort produziert. Schon 1960 sind fast 80 Millionen Sowjetbürger gegen die Kinderlähmung geimpft.

Auch in der DDR wird der sowjetische Polio-Impfstoff zeitgleich erfolgreich eingesetzt – eine angebotene Lieferung in die damalige Bundesrepublik scheitert aber an der Adenauer-Regierung. Erst 1962 wird mit amerikanischem Impfstoff – zunächst allerdings nur in Bayern und NRW – eine erfolgreiche Polio-Impfkampagne gestartet.

Auch die westlich-russischen Kommunikationsprobleme sind alt. Als bei einer medizinischen Konferenz in Wa­shington eine sowjetische Delegation von ihren Forschungserfolgen berichtet, schallt es aus dem Publikum: Niemand im Westen traut sowjetischen Informationen. Daran hat sich wenig geändert. In Kenntnis dieser Tatsache wären die Russen gut beraten gewesen, Sputnik V mit einem bescheideneren Namen und weniger Aplomb zu vermarkten.

Dessen ungeachtet etabliert sich der komplett in Rußland entwickelte Impfstoff auch außerhalb einstiger Sowjetrepubliken wie Weißrußland, Turkmenistan, Kasachstan, Moldawien oder Aserbaidschan. Bis Ende April war Sputnik V in über 60 Staaten zugelassen – darunter Ägypten, Argentinien, Indien, Kenia, Mexiko, Serbien, Syrien, die Türkei, Ungarn, Vietnam oder die Vereinigten Arabischen Emirate. Sollte der Impfstoff auch von der EU-Arzneimittelagentur EMA zugelassen werden, wollen Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen das Vakzin einsetzen. Berlins Wirtschaftschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) ist aus politischen Gründen gegen eine Sputnik-V-Beschaffung.

Anhaltende Skepsis in der russischen Bevölkerung

Im Februar 2021 veröffentlichte das britische Medizinjournal The Lancet die Zwischenergebnisse der dritten Testphase mit fast 22.000 Erwachsenen, randomisiert, doppelblind und placebokontrolliert. Basierend auf den Daten von fast 15.000 Teilnehmern in der Impfstoffgruppe und fast 5.000 in der Placebogruppe beuge der Impfstoff in 91,6 Prozent der Fälle einer symptomatischen Infektion vor – das ist auf dem Niveau der bekannten mRNA-Impfstoffe von Moderna/NIAID (94,5 Prozent) und Biontech/Pfizer (94,5 Prozent). Vier Todesfälle, die während der Studie registriert wurden, stünden nicht im Zusammenhang mit dem Impfstoff.

Für Mai sind zwei weitere Veröffentlichungen angekündigt, die eine Sputnik-V-Wirksamkeit von „deutlich über 95 Prozent“ belegen sollen. Am 25. April präsentierten die ungarischen Behörden Vergleichszahlen der seit Monaten in Ungarn eingesetzten Impfstoffe: Sputnik V, Astrazeneca, Biontech, Moderna und des chinesischen Sinopharm-Vakzins. Demzufolge schneidet der russische Impfstoff sowohl bei der Wirksamkeit als auch bei den Nebenwirkungen besser ab als die Konkurrenz.

Sputnik V ist wie das Produkt von Astrazeneca oder J&J/Janssen ein sogenannter Vektorimpfstoff – dafür steht auch der Buchstabe V im Namen. Victory ist eine PR-Erfindung. Bei dem Vektor handelt es sich um ein modifiziertes Trägervirus aus der Gruppe der Adenoviren, denen das Andock-Protein von Sars-CoV-2-im Labor „aufgepfropft“ wird. Der Vektor wirkt dabei wie eine Trägerrakete, während das Protein den Körper zu einer Immunreaktion veranlaßt.

Das ist an sich nichts Neues, was auch der Grund für die zügige Entwicklung im Moskauer Gamaleja-Institut ist. Der Nachteil ist der Aufwand bei der Herstellung. Die Trägerviren müssen in Bioreaktoren kultiviert werden, was die Skalierung auf große Stückzahlen erschwert. Andererseits wird kein Gen-Material in die menschlichen Zellen eingeführt. Bei den mRNA-Impfstoffen wurde hingegen wissenschaftliches Neuland betreten.

Das Lob der Fachwelt ändert aber nichts daran, daß die russische Politik sich mit der großspurigen Präsentation ins eigene Knie geschossen hat. Im Januar 2021 wollten 60 Prozent aller Russen mit der Impfung noch warten; auch unter der Ärzteschaft herrschte anfangs Skepsis. Selbst die freie Verfügbarkeit des Impfstoffs in den Großstädten hat bislang keine nennenswerte Durchimpfung bewirkt; Rußland liegt um mehr als den Faktor zehn hinter Großbritannien.

Doch anders als in Deutschland, den USA oder afrikanischen Ländern gibt es in Rußland kaum ideologisch gefestigte Impfgegner. Die dortige Skepsis wurzelt in dem typisch russischen Gottvertrauen, mit dem viele heute noch, gerade in der Provinz, den Sicherheitsgurt im eigenen Auto als völlig überflüssig abtun.

Gamaleja-Institut für Epidemiologie:  

gamaleya.org

 sputnikvaccine.com

 www.ema.europa.eu





Zum Corona-Impfen nach Rußland?

Bislang keine Corona-Impfung? Einige Reisebüros bieten die Immunisierung als Urlaubsreise nach Dubai, Israel oder Serbien an. Bei Rußland sollte man bedenken, daß sich die Bestimmungen schnell ändern können. So auch in diesem Winter. Anfangs war es für Ausländer kein Problem, sich in Moskau ohne Anmeldung impfen zu lassen. Dann hieß es plötzlich, daß eine Aufenthaltsgenehmigung nötig sei. Der Autor, der unter anderem für den russischen Auslandssender RT DE tätig ist, wurde kürzlich im Rahmen des RT-Impfprogramms durchgeschleust. Die Impfung mit Sputnik V scheint weitgehend frei von unangenehmen Nebenwirkungen; mehr als grippeähnliche Effekte über maximal ein, zwei Tage sind nicht zu erwarten. Ein möglicher Nachteil ist aber die fehlende Anerkennung der Impfung im EU-Raum. Zum Zeitpunkt der Drucklegung ist noch völlig unklar, ob man als Sputnik-Geimpfter in den Genuß möglicher „Öffnungsprivilegien“ in Westeuropa kommt. Dem steht die angenehme Gewißheit gegenüber, mit einem der effektivsten Impfstoffe vor der Covid-Krankheit geschützt zu sein. (tf)