© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/21 / 14. Mai 2021

Eklat um Boris Palmer
Meinungsfreiheit im Wahlkampf
Dieter Stein

So wohlorchestriert hatte der Wahlkampfauftakt der Grünen begonnen nebst glanzvoller Inthronisierung der Kanzlerkandidatin. Die Harmonie währte nicht lange – sie sprengte der Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, der sich in einer hitzigen Facebook-Diskussion zu einer, wie er selbst einräumt, mißlungenen satirischen Äußerung hinreißen ließ. Ihm war es um die Verteidigung des wegen einer heiklen Bemerkung als Sport-Experte bei Sky geschaßten Ex-Fußballprofis Dennis Aogo gegangen. Für die Grünen-Führung war das Maß voll, nun soll Palmer aus der Partei ausgeschlossen werden.

Wie in einer Kettenreaktion werden Kritiker der „Cancel Culture“ selbst gecancelt. Erst Ende März hatten 30 Grüne um Boris Palmer medienwirksam einen Appell „Ohne Angst verschieden sein“ veröffentlicht, der sich gegen linke Identitätspolitik richtet und „für die Kunstfreiheit und eine offene Debattenkultur, auch an unseren Universitäten und Hochschulen“ plädiert. Es war fast abzusehen, daß Palmers linke Gegner nur auf einen geeigneten Aufhänger warten würden, um den renitenten Freigeist endlich politisch zu erledigen. 

Es gibt nur wenige Politiker von links, die wie Boris Palmer ungeschminkt den Finger in offene Wunden legen. So bei der Politik ungeregelter Zuwanderung mit allen Folgen für den sozialen Zusammenhalt und der Inneren Sicherheit. Oder der immer wieder unkonventionelle Wege einschlägt, um beispielsweise in der Corona-Krise Alternativen zu flächendeckenden, phantasielosen Einschränkungen zu finden. 

Auch hier war Palmer vielen ein Dorn im Auge. Es fiel auf, daß Jan Josef Liefers, wichtiger Akteur der #Allesdichtmachen-Initiative von Schauspielern, sich zu Palmers „Tübinger Modell“ bekannte. Verstärkt fiel nun auf Palmer der lächerliche Verdacht, quasi schon „Corona-Leugner“ zu sein.

Unweigerlich drängt das Thema Meinungsfreiheit und Debattenkultur in den anlaufenden Bundestagswahlkampf. Armin Laschet, CDU-Vorsitzender und Kanzlerkandidat, mußte sich zu Jan Josef Liefers erklären (den er verteidigte) und jetzt zu Hans-Georg Maaßen, der es zum Verdruß der Parteiführung schaffte, in einem aussichtsreichen Thüringer Wahlkreis als Direktkandidat aufgestellt zu werden. Laschet scheint es sich jedoch vorgenommen zu haben, dem Pluralismus in seiner Partei größeren Raum zu geben, als dies unter Merkel der Fall war. Das ließe hoffen.

Mit Angela Merkel tritt eine Politikerin ab, die wie keine andere für eine regelrecht Klaustrophobie erzeugende Einengung des Sagbaren, für „Ende der Debatte“ stand. Ob bei Thilo Sarrazin oder Hans-Georg Maaßen. Auch bei Boris Palmer zeigt sich, wie sehr sich Grüne und die CDU unter Merkel in den letzten Jahren angenähert haben. Wer öffnet jetzt die Fenster und läßt Frischluft herein?