© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/21 / 14. Mai 2021

Von wegen Netzwerk …
„NSU 2.0“: Die Drohbriefe an linke Politiker stammen offenbar nicht von rechtsextremen Polizisten, sondern einem mehrfach vorbestraften Arbeitslosen
Christian Vollradt

Als die etwa zweitausend Leute, die dem Demonstrationsaufruf eines Bündnisses diverser Antifa-Gruppen mit dem Netzwerk Seebrücke sowie dem AStA der Goethe-Uni in Frankfurt am Main gefolgt waren, am 1. Polizeirevier vorbeikamen, reckten sich an der Spitze die ersten Mittelfinger in Richtung der Wache und aus Hunderten Kehlen erscholl der Ruf „Nazischweine, Nazischweine“ in Richtung der Beamten. Gerade erst hatte eine Frankfurter Rechtsanwältin mit türkischen Wurzeln, die die Familie eines der Opfer der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) juristisch vertrat, erneut einen Drohbrief bekommen. Absender: „NSU 2.0“. Zu dessen Adressaten gehörten neben der Rechtsanwältin auch mehrere Politiker, hauptsächlich von Linkspartei und Grünen. 

Für die Demonstranten, die Ende März 2019 unter dem Motto „Solidarität mit den Betroffenen – Gegen den Rechtsruck in Staat und Gesellschaft“ durch die Innenstadt der Bankenmetropole am Main zogen, war klar: die Urheber der Schreiben mußten in diesem Revier zu finden sein.

Lag hier nicht das Zentrum eines hessischen Polizeiskandals? Im 1. Revier stand der Computer, von dem aus kurz vor dem ersten Droh-Fax im August 2018 persönliche Daten der betroffenen Anwältin abgefragt worden waren. Als anschließend eine Durchsuchung bei einer Beamtin, die bei dem entsprechenden Rechner eingeloggt war, Hinweise auf eine Chatgruppe ergab, in der sich Polizisten gegenseitig auch rassistische Witze geschickt hatten, bewies dies für viele in Politik, Medien und „Zivilgesellschaft“ wieder einmal: In keiner anderen Behörde seien „struktureller Rassismus und rechte Strukturen“ so stark vertreten wie in der Polizei. 

Spätestens seit vergangener Woche bleibt von dieser Herleitung wenig bis gar nichts mehr übrig. Höchstwahrscheinlich steckte hinter den Drohbriefen des ominösen NSU 2.0 kein rechtsextremes Polizei-Netzwerk, sondern mutmaßlich ein einzelner langzeitarbeitsloser Facharbeiter für elektronische Datenverarbeitung. Ermittler und Spezialkräfte aus Hessen nahmen in Berlin den 53jährigen Alexander Horst M. fest, nachdem das Amtsgericht Frankfurt am Main zuvor einen Haftbefehl erlassen hatte. 

Verdächtiger hatte sich als Polizist ausgegeben

Auf die Spur gekommen waren ihm die hessischen Fahnder mit Hilfe von Experten des Bundeskriminalamts. Die Linguistik-Fachleute untersuchen beispielsweise Erpresserschreiben an Unternehmen, analysieren darin Sprachmuster sowie Wortwahl. Mit solchen Methoden sollen sie M. als denjenigen Drohbriefschreiber, der mit „NSU 2.0“ unterzeichnete, in den Kommentarspalten des Portals PI News und eines Schach-Forums identifiziert haben.  

Der Festgenommene ist strafrechtlich kein unbeschriebenes Blatt. Er mußte bereits wegen zahlreicher Delikte Freiheitsstrafen verbüßen, darunter wegen Körperverletzung, Beleidigung und Bedrohung, wegen Betrugs und der Störung des öffentlichen Friedens. 2006 verurteilte ihn außerdem das Amtsgericht Berlin Tiergarten wegen Hehlerei, Urkundenfälschung und des Besitzes kinderpornographischer Schriften sowie anderer Delikte zu zwei Jahren Haft.

Wie M. nun im Falle der mutmaßlich von ihm verfaßten Drohschreiben an die Daten gelangte, ist laut Staatsanwaltschaft Frankfurt „Gegenstand der laufenden Ermittlungen“. Nach aktuellem Wissensstand deute nichts auf die Beteiligung von Polizeibeamten an den Drohschreiben hin, sagt der Leiter der Ermittlungskommission im hessischen Landeskriminalamt, Hanspeter Mener. Seine Hypothese: Der Verdächtige habe sich möglicherweise erfolgreich als Polizist oder Behördenmitarbeiter ausgegeben und so die echten Polizisten zur Datenabfrage veranlaßt. Ob er eventuell Helfer oder Mittäter gehabt habe, müsse laut Staatsanwaltschaft noch untersucht werden. Das allerdings wäre erstaunlich, denn der Festgenommene gilt als einzelgängerisch. 

Daß er sich dagegen als Polizist ausgab, würde zu seiner Vorgeschichte passen. M. soll sich früher bereits mindestens einmal als Kriminalbeamter ausgegeben haben, 1994 war er unter anderem wegen Amtsanmaßung in Tateinheit mit Bedrohung und Beleidigung in zwei Fällen verurteilt worden. Unter falscher Identität hatte er auch schon den Leiter der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel auf dessen Dienstapparat angerufen. Und während gegen M. aktuell im Zusammenhang mit den NSU-2.0-Drohschreiben wegen Volksverhetzung und wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen ermittelt wird, hatte er 2003 in einem an die Justiz die Gefängnis-Bediensteten als „fast durchgängig geistig minderbemittelte Rechtsextremisten“ bezeichnet.

Schon in einem Prozeß 2006 hatten Zeugen unabhängig voneinander M. aufgrund seiner Sprache, Wortwahl und Sprechart als Drohanrufer identifiziert. Dabei gab vor allem „die ständige Wiederholung bestimmter Äußerungen und Redewendungen“ den Ausschlag, wie es im schriftlichen Urteil heißt. „Der Angeklagte habe in bestimmten Situationen einen gewissen militärischen Tonfall, der sehr bestimmt sei“, wird eine Zeugenaussage wiedergegeben. 

Möglich also, daß er sich mit diesem Ton auch gegenüber den Polizisten in Hessen als vermeintlicher Kollege ausgeben konnte. „Wenn der Typ eini­ger­ma­ßen glaub­wür­dig rüber­kam, dann war es für ihn wahr­schein­lich mega easy, an die Infos zu kommen“, zitiert die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung anonym eine hessi­sche Beamtin. Manchmal müsse es eben schnell gehen, da würde auf schriftliche Authentifizierungen zur Not verzichtet. „Wenn du halb­wegs über­zeu­gend klingst, ist es kein Problem. Gerade als Mann mitt­le­ren Alters, der gut Deutsch spricht. Also, so blöd es klingt: Da fragt keiner nach“, geben Polizisten der FAS gegenüber zu. 

Sollte zutreffen, daß sich der mutmaßliche Drohbriefschreiber M. alias „NSU 2.0“ ein behördliches Datenleck zunutze machen konnte, dann waren dafür allem Anschein nach nicht „Rassisten“ oder „Nazischweine“ in Uniform und auch kein rechtsextremes Netzwerk in der Polizei verantwortlich, sondern einzelne Beamte, die in der Hektik des Dienstalltags nicht alle Vorschriften eingehalten haben.