© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/21 / 14. Mai 2021

Rot-grüne „Nationalisten“ wittern Morgenluft
Großbritannien: Premier Boris Johnson will trotz SNP-Siegs ein zweites Schotten-Referendum verhindern / Labour-Partei hält London
Julian Schneider

Nicola Sturgeon blickt triumphierend und spricht von einem „Erdrutsch-Sieg“. Aber auch ihr Widersacher Boris Johnson in London hat gut lachen, denn bei einer Nachwahl in Nordengland und Kommunalwahlen konnten seine Tories die verunsicherte Labour-Partei demütigend schlagen. 

Das stärkt Johnsons Position in der Downing Street; allerlei kleinere Skandale jüngerer Zeit konnten ihm offenbar politisch nicht viel anhaben. Labours Filz-Anklagen und Vorwürfe wegen möglicher Gönnerspenden für die „goldene Tapete“ in Downing Street scheinen an Teflon-Boris abzuperlen.

Es droht ein langwieriger Verfassungsstreit

Sturgeons rot-grüne „Nationalisten“ haben derweil in Schottland bei der Regionalwahl sehr gut abgeschnitten. Die Scottish National Party (SNP) verfehlte zwar knapp die absolute Mehrheit der Sitze und kommt nun auf 64 Abgeordnete im 129 Sitze zählenden Holyrood-Parlament in Edinburgh. Doch gemeinsam mit den ebenfalls die Unabhängigkeit unterstützenden Grünen hat die SNP eine starke Mehrheit.

 Die seit sieben Jahren in Edinburgh regierende SNP-Chefin Sturgeon sagte am Wochenende, sie wolle ein neues Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands schon Anfang nächsten Jahres „nicht ausschließen“. 2014 verfehlte die Unabhängigkeitsbewegung deutlich die Mehrheit (55 Prozent gegen 45 Prozent) für ihr Ziel, die seit 1707 bestehende Union von Schottland und englischem Königreich aufzulösen. Neuere Umfragen zufolge liegen Befürworter und Gegner etwa gleichauf.

Boris Johnson schleudert den Wünschen für ein baldiges „IndyRef2“ ein deutliches Nein entgegen. Das Gerede, „unser Land auseinanderzureißen“, sei „unverantwortlich und skrupellos“, sagte er in einem Telegraph-Interview. Nach dem Scotland Act von 1998 sind Verfassungsfragen dem britischen Parlament in Westminster vorbehalten – also bräuchte Edinburgh für ein neues Referendum die Erlaubnis aus London. Allerdings geht Westminster ein Risiko ein, wenn der Eindruck entsteht, die Engländer würden den Schotten den „demokratischen Wunsch nach Selbstbestimmung“ verweigern, wie Sturgeon sagte. SNP-Stimmen sind geschickt darin, die verhaßte Tory-Regierung als „arrogante Aufseher“ abzutun.

Der Verfassungsstreit könnte bald vor dem High Court landen. Johnsons mächtiger Kabinettsbürominister Michael Gove, aus dem schottischen Aberdeen gebürtig, versucht diesem Eindruck entgegenzutreten: Die „Priorität“ dürfe jetzt nicht eine Schlacht der Gerichte, sondern müsse die Erholung von der Pandemie sein. Johnson und Gove wollen Zeit gewinnen. Sie glauben, daß die Unabhängigkeitsbewegung später wieder schwächer wird, wenn sich das Land von der Corona-Krise erholt hat. Derzeit sieht es nach einer sehr kräftigen Wirtschaftserholung in Großbritannien aus, weil sich die erfolgreiche Impfkampagne auszahlt.

Der Impferfolg hat der Johnson-Regierung landesweit Rückenwind verschafft. Bei der Nachwahl des Parlamentssitzes im nordenglischen Hartlepool schlugen die Tories Labour vernichtend. Die Tory-Kandidatin Jill Mortimer erhielt fast doppelt so viele Stimmen wie der Labour-Kandidat, ein NHS-Arzt – und das in einem altindustriellen Wahlkreis, in dem Labour seit fast sechs Jahrzehnten dominierte, der sich allerdings auch durch eine Zwei-Drittel-Brexitmehrheit auszeichnete. Die Hartlepool-Wahl ist ein weiterer Beleg dafür, wie stark es Johnsons Tories gelingt, die frühere nordenglische „Rote Mauer“ von Labour aufzubrechen. „Ich bin bitter enttäuscht von diesen Resultaten“, sagte Labour-Parteichef Keir Starmer, als das Desaster öffentlich wurde. 

In Wales wie auch bei der Bürgermeisterwahl in London, bei der sich in der Stichwahl Bürgermeister Sadiq Khan mit 55,2 Prozent gegenüber seinem konservativen Herausforderer Shaun Bailey (44,8 Prozent) durchsetzte, konnte Labour ihre starke Stellung halten, doch in vielen englischen Kommunen verliert sie an Boden.

Gut ein Jahr nachdem Starmer vom Altsozialisten Jeremy Corbyn die Parteiführung übernommen hat, steht der frühere Generalstaatsanwalt mit dem Rücken zur Wand: Von links machen Kräfte aus dem alten Corbyn-Lager Druck, eher mittige Politiker kritisierten den „Woke“-Kurs der Partei, die sich mehr um Transgender-Rechte als Arbeiterfragen zu kümmern scheint. Der Abgeordnete Khalid Mahmood trat aus Starmers Schattenkabinett zurück und sagte, „Woke-Krieger aus den sozialen Medien“ bestimmten zu sehr das Bild von Labour. Die Partei habe den Eindruck erweckt, sie wolle Churchill-Statuen stürzen, statt Menschen helfen.

Foto: Party für die Unabhängigkeit Schottlands (schottisch-gälisch: Alba): Neueren Umfragen zufolge liegen deren Befürworter und Gegner gleichauf