© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/21 / 14. Mai 2021

Wer den Daumen auf dem Beutel hat
Wirtschaftliche Macht als Türöffner zum Politischen: Konzerne und finanzstarke Einzelpersonen untergraben die staatliche Souveränität
Philipp Meyer

Die Geschichte der Britischen Ostindien-Kompanie begann im Jahr 1601 mit fünf Schiffen, die in Richtung Südostasien segelten. Der jungen Handelsgesellschaft wurde damals nicht viel mehr zugetraut als ein Außenposten auf Sumatra und gewinnbringende Geschäfte mit Gewürzen und Tee. 

Hundert Jahre später besaß die Aktiengesellschaft das vollständige Monopol über den Handel auf dem indischen Subkontinent, die dortige Zivilgerichtsbarkeit sowie das Recht, mit eigenen Truppen Krieg zu führen und Geld zu prägen. Die Kompanie hatte die Chancen, die sich im immer stärker expandierenden britischen Kolonialreich boten, erkannt und de facto eine eigene Staatlichkeit errungen. Wie Otto von Bismarck einst sagt: „Wer den Daumen auf dem Beutel hat, hat die Macht.“

Die Geschichte zeigt, daß einflußreiche Unternehmen in der Vergangenheit immer wieder bereit waren, ihre Rolle als Zaungast bei staatlichen Entscheidungen abzustreifen und aus der ökonomischen in die politische Sphäre vorzudringen. Ob dieser Rollenwechsel möglich oder gar nötig war, hing dabei von den jeweiligen geopolitischen und wirtschaftlichen Bedingungen ab. 

Derzeit befinden sich viele Staaten und überstaatliche Organisationen in einer unschwer übersehbaren Schwächephase. Ausufernde Bürokratie, unklare Verantwortungsbereiche und klamme Staatskassen schmälern den Eindruck von souverän Handelnden. Vielmehr erscheinen die Repräsentanten staatlicher Entscheidungsgewalt als von einer Krise zur nächsten Getriebene. 

Konzerne teils finanzstärker als Staaten 

Würde man hingegen die Umsätze von Großkonzernen wie Steuereinnahmen in einem Staatshaushalt betrachten, wäre der US-amerikanische Einzelhandelskonzern Walmart mit einem Umsatz von 524 Milliarden Dollar auf Platz 10 der einnahmestärksten Länder der Erde. 

Damit läge das Unternehmen noch vor Ländern wie Spanien und Australien und das chinesische Mineralölunternehmen Sinopec vor Südkorea sowie den Niederlanden auf Platz 12. Im Jahr 2019 wären insgesamt 71 Konzerne unter den ersten 100 Plätzen gewesen. 

Auf finanzieller Ebene können diese also längst mit den meisten Nationalstaaten der Welt konkurrieren. Was sie jedoch grundlegend von Staaten unterscheidet, ist das fehlende Monopol über Judikativ-. Legislativ- und Exekutivorgane. Aber gerade hier können die politisch Verantwortlichen ihre eigenen Bürger immer weniger von der Notwendigkeit eines staatlichen Alleinrechts überzeugen.  Der Hurrikan Katrina offenbarte schon 2005, daß die amerikanischen Behörden in einem großen Katastrophenfall nur noch bedingt Schutz- und Rettungsmaßnahmen für die Zivilbevölkerung zu leisten vermögen, und auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erwies sich im Zuge der Corona-Pandemie als überforderte und führungsschwache Institution. 

Im Gegenzug gibt es jedoch immer mehr Anzeichen dafür, daß Konzerne und milliardenschwere Privatpersonen in die Risse einer verfallenden globalen Ordnung stoßen und in Bereichen aktiv werden, die bisher fest in staatlicher Hand lagen. 

Das exklusive Wirkungsprinzip der internationalen Politik scheint sich im 21. Jahrhundert dem Ende zuzuneigen. Die Unternehmer George Soros und Bill Gates sind nur die prominentesten Milliardäre, die sich über ihre weitreichenden Netzwerke von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) Einfluß auf den Prozeß der gesellschaftlichen Veränderungen in einer globalisierten Welt sichern. 

Auch Google-Mitbegründer Sergej Brin, mit einem geschätzten Vermögen von etwa 50 Milliarden Dollar auf Platz 14 der Forbes-Liste der weltweit reichsten Menschen plaziert, arbeitet an einem privaten Exekutivorgan. Hierfür gründete er eigens die NGO Global Support and Development (GSD), welche auf seine Anweisung in Katastrophengebieten aktiv wird. Geführt wird diese je nach Auftrag bis zu 120 Mann starke Truppe von Brins Leibwächtern, ehemaligen Navy-Seals-Elitesoldaten.

 Der Multimilliardär kommentiert das Vorgehen der GSD nicht, doch Einsätze nach dem schweren Erdbeben in Ecuador 2016, dem Hurrikan Dorian auf den Bahamas oder den kalifornischen Waldbränden 2018 sind bekannt. Derzeit leistet sie Unterstützung bei der Eindämmung des Coronavirus in den Vereinigten Staaten. 

Das US-amerikanische Nachrichtenportal „The Daily Beast“ konnte nähere Einblicke in das Vorgehen der Organisation gewinnen und berichtete, Brin stelle dieser sogar seine 73 Meter lange Superyacht „Dragonfly“ zur Verfügung. 

Dadurch soll es der GSD ermöglicht werden, noch vor Spezialkräften in den verheerten Gebieten einzutreffen und dort erste Maßnahmen zur Wiederherstellung der Infrastruktur einzuleiten. Während Brins Privatarmee einerseits als philanthropische Spielerei eines technikbegeisterten Multimilliardärs verstanden werden kann, stellt sie andererseits eine Provokation dar. Schließlich demonstriert das schnelle und effektive Agieren der kleinen Söldnertruppe die Schwerfälligkeit staatlicher Katastrophenschutzbehörden und wirft die Frage auf, ob derlei Hoheitsaufgaben vielleicht besser in den Händen erfolgreicher Unternehmer aufgehoben wären.

Aber nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Konzerne drängen sich mit Großprojekten in bisherige Staatsdomänen. So etwa die Internetwährung Libra, die eine finanzpolitische Machtverschiebung anvisiert. Sie versteht sich als Konkurrenzprodukt zu der bisher bekanntesten Kryptowährung Bitcoin (siehe Seite 7) und strebt eine nicht minder grundlegende Revolution im Finanzsektor an. Für die neue Währung wurde eigens die in Genf ansässige Organisation Libra Association gegründet, hinter der sich federführend die Facebook Inc. verbirgt. 

Der Social-Media-Gigant erhält zusätzliche Unterstützung durch einen Zusammenschluß mehrerer Platzhirsche im digitalen Bereich wie dem Dienstleistungsunternehmen Uber oder dem Audio-Streamingdienst Spotify. Auch der Bezahldienst Pay-pal, die Aktiengesellschaft Visa oder das Verkaufsportal eBay gehörten zu den Gründungsmitgliedern, jedoch stiegen diese nach Unstimmigkeiten und der zu großen Dominanz von Facebook wieder aus der Assoziation aus. Die Vorteile seiner Kryptowährung sieht Facebook in einem schnelleren und billigeren Zahlungsverkehr als bei herkömmlichen bargeldlosen Transaktionen. Des weiteren wertet der US-Konzern sein Währungsprojekt als Chance für die rund 1,7 Milliarden Bürger von Entwicklungsländern, die nur erschwerten Zugang zu einem funktionsfähigen Bankwesen haben und durch das System einer zinslosen Geldwirtschaft an neuen Kreditformen teilhaben könnten. 

Libra gilt als Risiko für Finanzsouveränität

Dante Disparte von der Libra Association preist dies als „finanzielle Inklusion“ an. Ziel des Projekts sei es, „den Zahlungsverkehr so zu vereinfachen, wie es das Internet mit der Übertragung von Daten geschafft hat.“ Kritiker bezweifeln indes eine allzu selbstlose Motivation hinter Libra. 

Anders als im Bitcoin-Projekt, das sich aufgrund seiner Dezentralität der Transaktionsprozesse als eine Art „digitales Gold“ und ohne die Notwendigkeit von Zentralbanken als herrschaftsfreie Alternative zur Weltwährung begreift, würde die breite Akzeptanz des „Facebook-Coins“ zu einer Währung in der Hand eines Konglomerats von Konzernen mit monopolartiger Stellung führen. 

Die Souveränität in der Finanzpolitik stellt jedoch eine unverhandelbare Säule der Nationalstaatlichkeit dar. Sollte beispielsweise eine Finanzkrise die Inflation in schwindelerregende Höhen treiben und den Vertrauensverlust in die Notenbanken weiter schwächen, würde der Libra-Zusammenschluß die Vertrauensbasis seiner Kunden zur Stabilität seines Zahlungsmittels nutzen. Die Kryptowährung wäre dann tatsächlich eine neue Komplementärwährung, mit all dem daraus resultierenden Machtgewinn für Facebook und Konsorten. Insofern hat die Ankündigung des Libra-Projekts im politischen Betrieb für große Unruhe gesorgt. 

Der französische Finanzminister Bruno Le Maire forderte umgehend ein Verbot. Demokratische und republikanische Abgeordnete verlangten im US-Senat eine Verschiebung des Starts des Transaktionssystems, der noch dieses Jahr erfolgen soll. Auch der Verein Finance Watch, der sich als Verbraucherschutzorganisation versteht, bezeichnet Libra „als großes Risiko für die öffentliche Finanzsouveränität“ und prognostiziert eine Gefahr für Nutzer, Finanzstabilität und Demokratie. 

Die Datenkrake Facebook würde durch die Bezahlung mit der hauseigenen Währung zusätzlich neben dem bisherigen Abfischen von persönlichen Daten auch noch die finanzielle Situation der Nutzer erfassen können. Wie erfolgreich diese ambitionierten Pläne umgesetzt werden können, wird die Zukunft zeigen. 

Foto: Milliardäre Elon Musk, George Soros, Bill Gates (v. l. n. r.): Ihr Vermögen ermöglicht es ihnen, in politische Sphären einzudringen