© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/21 / 14. Mai 2021

Bücher statt Bildschirme
Pisa-Sonderstudie: Der digitalisierte junge Masseneremit kann nicht mehr realitätstauglich lesen
Josef Kraus

Pisa hat sich eigentlich abgenutzt. Die ermüdende Klage, daß angeblich gerade in Deutschland ein enger Zusammenhang zwischen Sozialstatus der Eltern und dem Schulerfolg der Kinder bestehe; das Gejammere, daß Deutschland zu wenig Abiturienten produziere: all das entbehrte schon immer der Grundlage.

Dennoch fördern einzelne Pisa-Sonderauswertungen interessante Erkenntnisse zutage. Aktuell zum Beispiel eine Zusatzstudie zu Pisa 2018, nach der in allen untersuchten 35 Ländern und ganz besonders in Deutschland ein negativer Zusammenhang zwischen „digitalisiertem“ Konsum der untersuchten Fünfzehnjährigen und ihrer Lesekompetenz besteht. Einfacher ausgedrückt: Je mehr die jungen Leute mit Bildschirmen und auch schulisch mit Tablets zu tun haben, desto schlechter lesen sie. 

Pädagogen mit Bodenhaftung wissen das seit langem. Aber die Euphorie, mit „Laptop statt Schulranzen“ würden neue Dimensionen des Lernens eröffnet, war schon immer hohl. Sie war – progressiv-pädagogisch kaschiert – allein den Interessen der IT-Industrie und den karrierebeflissenen Ambitionen von „Bildungsforschern“ geschuldet. Nun heißt es in der Pisa-Sonderstudie: „Die Nutzung digitaler Medien an sich wirkt nicht lernfördernd.“ Noch ehrlicher wäre es gewesen, wenn es geheißen hätte: Das wirkt eher lernhemmend. Denn: Je mehr junge Leute ganz klassisch lesen, desto besser schneiden sie in der Schule ab. Diese Schüler können auch kritischer zwischen Fakten und Bewertungen unterscheiden. 

Präsenzunterricht kann nicht digital ersetzt werden 

Überhaupt erreichen 21 Prozent der „Schüler in Deutschland“ (es heißt nicht: „der deutschen Schüler“) beim Lesen nicht das für ein selbstbestimmtes Leben erforderliche Mindestniveau. Häufig verlassen sie schon die Grundschule mit erheblichen Defiziten im Lesen. Umgekehrt heißt es laut Pisa: Lesestarke Schüler können auch „in anspruchsvollen digitalen Umgebungen“ besser navigieren, weil sie in der Lage sind, digitale Technologien optimal zu nutzen. Man hätte es einfacher sagen können: Wer sich in einem Buch, einem Lexikon, einer Zeitung, einer Bibliothek auskennt, der kann auch digitale Medien besser nutzen.

An den Euphorikern neuer digitaler Nürnberger Trichter dürfte dieser Befund wieder vorbeigehen. Sie setzen weiter auf Laptop- oder Smartphone-Klassen, didaktische Hyperlinks, Homelearning, just-in-time-knowledge, instant-learning, Teleteaching usw. Die Einflüsterer sitzen nach wie vor in den Stiftungen von Bertelsmann, Vodafon, Telekom, Bitkom usw. „Corona“ dient ihnen nun als Trittbrett, um noch mehr Digitalisierung von Schule zu fordern. Nein, völlig daneben. Wenn „Corona“ eines gezeigt hat, dann dies: Digitalisierter „Distanz-

unterricht“ kann nicht ausgleichen, was der Wegfall von Präsenzunterricht schadet.

Bewegen müßte Pädagogen etwas ganz anderes, vor allem die Frage, ob der junge Wlan-mäßig vernetzte Multimedia-Mensch ab einem gewissen Stadium des Medienkonsums überhaupt noch die Fähigkeit besitzt, zwischen faktischer Realität und virtueller „Realität“ zu unterscheiden oder ob er nicht bereits einer höchstselektiven „Windowisierung“ von Wirklichkeit ausgesetzt ist. 

Der Medienphilosoph und Technikkritiker Günther Anders (1902–1992) würde mit Blick auf die digitalen Medien zudem vor einer Ikonomanie, vor einer Bildsucht, warnen. Diese Warnung präzisierte er in seiner Essaysammlung „Die Antiquiertheit des Menschen“ von 1956 bzw. 1980: Darin belegt er, daß die technische Intelligenz oft die Intelligenz ihrer Erzeuger übertrifft. Folge gerade beim Fernsehen (um wieviel mehr erst bei den digitalen Medien!): „Alles Wirkliche wird phantomhaft, alles Fiktive wird wirklich.“ 

Mehr Investitionen in Schulbibliotheken

Die Überwältigung der Wahrnehmung und des Denkens durch Informationsfluten sowie die medial bedingte Isolation zum digitalisierten Masseneremiten könnte jedenfalls dazu führen, daß Kinder nichts mehr begreifen – „be-greifen“, wie es die Weisheit der Sprache zum Ausdruck bringt, weil sie nichts mehr zum Greifen haben. Schließlich ist ja alles auf dem Bildschirm immateriell. Jedenfalls müssen wir aufpassen, daß wir nicht mit einer Sintflut an digitalisierter Information einem Tyrannen die Tür öffnen, der unsere Kinder „vernetzt“, fesselt und ihrer Freiheiten beraubt. Das Buch wäre das geeignete Rettungsboot in dieser Sintflut.

Ein überdimensionierter Einsatz neuer Informationstechniken provoziert jedenfalls Kollateralschäden, die bislang unterschätzt wurden und die um so gravierender ausfallen, je früher dieser Einsatz in der Entwicklung der Kinder beginnt. Warum? Weil neue Medien, vor allem das Internet, eine sprunghafte Wahrnehmung und die Haltung fördern, Lernen könne ständig Spaß und Animation sein. Die Folgen sind ein Mangel an Konzentration und Ausdauer.

Statt monomanisch an der Digitalisierung von Schule zu arbeiten, sollte die Bildungspolitik also in allen Fächern wieder mehr auf das Lesen setzen und mehr in Schulbibliotheken als in Laptops investieren, damit die erhofften „digital natives“ nicht zu digitalen Naivlingen werden. 

Zugleich noch einmal zurück zum Befund, junge Leute könnten immer seltener zwischen Fakten und Bewertungen unterscheiden: Da hätten die Pisa-Forscher auch in den Häusern der „Leitmedien“ reiches Anschauungsmaterial. Denn dieses Unterscheidungsvermögen ist eine Fertigkeit, die auch dort mehr und mehr schwindet.