© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/21 / 14. Mai 2021

Gegenwärtige Vergangenheit
Rückschau: Zwei Defa-Filme behandeln aus unterschiedlicher Perspektive das Ende des Zweiten Weltkrieges
Thorsten Hinz

Unter dem Dach der Defa, dem staatlichen Filmunternehmen der DDR, wurden 1968 zwei Kinofilme produziert, die vom Ende des Zweiten Weltkriegs handeln. Sie spielen im Osten, genauer: im Osten der späteren DDR. Sie bilden ein geographisches Gegenstück zu Bernhard Wickis Film „Die Brücke“. 

Der bekanntere der beiden Filme, „Ich war 19“, stammt von Konrad Wolf. (1925–1982), Sohn des Schriftstellers Friedrich Wolf. Sein Bruder Markus war der prominente, für Auslandsaufklärung zuständige Stasi-General. Die Familie war 1933 in die Sowjetunion emigriert. Konrad Wolf kehrte 1945 in der Uniform der Roten Armee nach Deutschland zurück. Das persönliche Schicksal des Regisseurs bestimmt die spezielle Perspektive des Films. Der junge Gregor Hecker – gespielt von Jaecki Schwarz, der später in der Serie „Polizeiruf 110“ des MDR als Hauptkommissar Schmückle auch im Westen bekannt wurde – ist teilweise sein Alter ego. Hecker ruft die deutschen Soldaten über Lautsprecher auf, sich zu ergeben. Er nimmt als Dolmetscher an Übergabeverhandlungen teil. In der Kleinstadt Bernau nördlich von Berlin wird er kurzzeitig als Kommandant eingesetzt.

Sexuelle Gewalt durch russische Soldaten

Heiner Carows „Die Russen kommen“ zeigt die komplementäre Perspektive. Carow wurde – wie übrigens Walter Kempowski – 1929 in Rostock geboren und wuchs dort auf. Sein Film „Die Legende von Paul und Paula“ von 1973, der so unbefangen wie freizügig zeigte, daß es ein wahres Leben im falschen gab, wurde in der DDR zum Kultstreifen.

„Die Russen kommen“ spielt auf Usedom und basiert auf einer Erzählung von Egon Richter, einem Neffen von Hans Werner Richter, Gründer der „Gruppe 47“. Der 15jährige Gymnasiast Günter Walcher glaubt fest an den Endsieg. Als ein gleichaltriger russischer Zwangsarbeiter entflieht, beteiligt er sich mit andern Schülern an der Suche. Der Flüchtige ist in einer leeren Fabrikhalle bis unter das Dach geklettert. Günter klettert ihm nach. Er will dem Jungen die Hand reichen, um mit ihm nach unten gehen.

Was der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein könnte, endet in einer Katastrophe. Der Junge wird von einem Polizisten erschossen und stürzt in die Tiefe. Das freundliche Kindergesicht des Toten wird Günter verfolgen, wie Macbeth von Banquos Geist verfolgt wurde. Zuvor aber zeichnet man ihn feierlich mit dem Eisernen Kreuz aus. Nach dem Einmarsch der Russen wird er verhaftet. Aus Loyalität gibt er keine Namen preis. Der Todesschütze wird trotzdem verhaftet und zu ihm in die Zelle gesperrt. Als der an ihn appelliert, als Deutsche müßten sie gegen den „Iwan“ zusammenstehen, erschlägt er ihn und ruft, er sei kein Mörder.

Weder Wolf noch Carow schildern den Einmarsch der Roten Armee in authentischer Weise. Bei Carow sind die Rotarmisten gegenüber den Deutschen mitfühlend, geradezu besorgt. In Wolfs Film wird ein gefangener deutscher Soldat rechtswidrig erschossen, doch ist das eine überschießende Reaktion im Zuge der Befreiung des KZ Sachsenhausen. Die Vergewaltigungen werden immerhin angedeutet. Eine junge Frau, die es aus Pommern nach Bernau verschlagen hat, flüchtet sich zu Gregor Hecker in die Kommandantur. Lieber wolle sie mit einem schlafen als mit jedem.

Mehr war aus politischen Gründen nicht möglich. Inhalt und Wirkungsgeschichte des Romans „Tod am Meer“ Werner Heiduczeks bilden dazu eine Fußnote. Er enthält die Lebensbeichte des Filmszenaristen Jablonski, der auf der Flucht aus Schlesien Zeuge sexueller Gewalt durch russische Soldaten geworden war. „Mit dem, was in jener Nacht und am folgenden Morgen auf diesem Bauernhof geschah, bin ich all die Jahre nicht fertig geworden.“ Deshalb habe er lange keine Szenarien über die Kriegszeit schreiben können. Als er gegenüber einem russischen Freund auf die Vergewaltigungen insistiert, erwidert der: „Ich finde es dumm, den Menschen in den Zustand des Tieres zu versetzen und dann über seine Unmoral zu meditieren.“ Sollte es auch in 1.000 Jahren noch Kriege geben, werde es auch zu Raub, Plünderung, Mord, Vergewaltigungen kommen. Das Buch hatte eine Demarche des sowjetischen Botschafters zur Folge und wurde im höchsten Führungsorgan, dem SED-Politibüro, diskutiert.

Beide Filme versuchten aber, die Situation 1945 jenseits ideologischer Normen und Dogmen zu erfassen. Konrad Wolf verleugnet nicht seine kommunistische und antifaschistische Haltung. Dennoch zeigt er die deutschen Soldaten nicht als Unmenschen, sondern als Geschlagene, wie die meisten ein Strandgut des Krieges. Ein Kommunist, der aus dem KZ befreit wurde und bei einem Umtrunk sein umfassendes Rachebedürfnis kundtut, wird von einem sowjetischen General zu Vernunft und Mäßigung aufgerufen.

Carow verzichtet auf belehrenden Antifaschismus

Noch deutlicher ist Heiner Carow. Sein Filmheld ist ein fehlgegangener jugendlicher Idealist: „Es muß doch alles einen Sinn haben. Warum kämpfen wir sonst?“ Mit seiner Freundin Christine besucht er die Kinovorstellung von Veit Harlans Durchhaltefilm „Kolberg“. Er hat sogar eine entfernte physiognomische Ähnlichkeit mit dem von Horst Caspar gespielten Offizier Gneisenau, den der König einen Poeten, Phantasten, deutschen Träumer nennt, der sich aber als tapferer Krieger und kühner Stratege erweist.

Eine andere Sequenz zeigt die Unio mystica, die zwischen Königin Luise (Irene von Meyendorff), der ins Himmlische entrückten Repräsentantin Preußen-Deutschlands, und Maria (Kristina Söderbaum), dem Mädchen aus dem Volke, stattfindet. Christine sieht entsetzt, daß ihr Freund sich mit der Filmhandlung identifiziert. Sie verläßt mit ihm den Kinosaal und versetzt ihm eine schallende Ohrfeige, als wollte sie ihn aus einem bösen Traum erwecken. Als auf der Leinwand zu dramatischer Musik das Bombardement Kolbergs einsetzt, klammern in der Loge sich weltvergessen ein Soldat und seine Geliebte zum Liebesakt aneinander.

Interessant ist die Figur von Günters Lehrer, einem ehemaligen Deutschnationalen. Er erklärt dem Jungen, daß der Krieg verloren sei und es vom ersten Tag an war. Die Befreiungskriege, Sedan, Langemarck – alles umsonst, Deutschland sei am Ende. Als russische Panzer anrollen, lautet sein Kommentar: „Nun hat der Oswald Spengler doch recht.“ Er vergiftet sich. In seinem Abschiedsbrief schreibt er, Deutschland hätte eine europäische Mission gehabt, für die es den Pakt mit dem Teufel eingegangen sei, doch sei er nicht aufgegangen. Weder ein physisches noch psychisches Überleben sei ihm noch möglich. Ganz ähnlich handelte der Chef der Eisenbahngesellschaft in Lars von Triers Film „Europa“, der sich ebenfalls nichts hat zuschulden kommen lassen, doch lieber tötet er sich, als sich selbst aufzugeben und sich mit den Siegern zu identifizieren.

Der Film kam in der DDR lange nicht zur Aufführung. „Psychologisierung des Faschismus“, lautete der Vorwurf. Erst 1987 kam eine rekonstruierte Fassung in die Kinos. Was Carow als Defizit vorgeworfen wurde, ist in Wahrheit der Vorzug des Films. Er verzichtet auf belehrenden Antifaschismus und zeigt, daß die Lebenswirklichkeit im Dritten Reich sich nicht mit simplen Faschismus-Theorien erfassen läßt. Auch braucht sein junger Filmheld keine Umerziehung, keine politischen Schulungen, um seine Irrtümer zu erkennen. Die Einsicht und die Reue kommen aus seinem Gewissen.

Nun war aber der explizite Antifaschismus der Gründungsmythos der DDR. Seine universelle Gültigkeit in Frage zu stellen, indem man ihn überhaupt nicht erwähnte, bedeutete automatisch, den universellen Anspruch des Systems, das sich auf ihn stützte, in Zweifel zu ziehen.

Die Tatsache, daß der Antifaschismus die politisch-ideologische Legitimationsbasis des SED-Regimes bildete, hat erstaunlicherweise nicht zu seiner dauerhaften Diskreditierung geführt. Im Gegenteil, das wiedervereinte Land wird von einem öffentlichen Typus beherrscht, den Werner Heiduczek anhand einer DDR-Hochschul-Dozentin karikierte: „Sagte jemand, er sei als Soldat in Rußland gewesen, korrigierte sie sofort, er hätte als Angehöriger der faschistischen Wehrmacht die Sowjetunion überfallen.“ Dieser Typus hat sich nach der Wiedervereinigung weiterentwickelt und spricht heute von der „Tätergeneration“. Einen aktuellen Film nach dem Muster von „Die Russen kommen“ würde er kaum zulassen. Er würde ihn gar nicht verstehen.

Vor fast genau 35 Jahren sinnierte Ernst Nolte in der FAZ, daß das „Vergehen der Vergangenheit“ keineswegs ihr Verschwinden bedeute, aber sie verliere „das Bedrängende, das sie für die Zeitgenossen“ hatte, weshalb sie den Historikern überlassen bleibe. „Die nationalsozialistische Vergangenheit dagegen unterliegt (…) anscheinend diesem Dahinschwinden, diesem Entkräftigungsvorgang nicht, sondern scheint immer noch lebendiger und kraftvoller zu werden, aber nicht als Vorbild, sondern als Schreckbild, als eine Vergangenheit, die sich geradezu als Gegenwart etabliert oder die wie ein Richtschwert über der Gegenwart aufgehängt wird.“

Das gilt heute noch mehr als 1986. Über die Gründe lohnt es sich nachzudenken.